Gesinnungswandel beim DGB?

Ronald Blaschke 29.05.2015 Druckversion

Dorothee Spannagel, seit 2014 Referatsleiterin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung des DGB  für Verteilungsanalyse und Verteilungspolitik und Mitglied des wissenschaftlichen Gutachtergremiums für den 5. Armuts- und Reichtumsbericht, legt einen beachtenswerten Report vor: “Das bedingungslose Grundeinkommen: Chancen und Risiken einer Entkoppelung von Einkommen und Arbeit” (WSI-Report Mai 2015).

Beachtenswert ist der Report aus mindestens drei Gründen:

Erstens wird die in DGB-Kreisen – die Stiftung und damit das WSI gehört zum Deutschen Gewerkschaftsbund – nicht sehr verbreitete Auffassung vertreten: “Der Zugang zu jeglicher sozialen Sicherung muss diskriminierungsfrei sein und darf nicht an Bedingungen wie die Suche nach Erwerbsarbeit geknüpft sein. Vor allem aber müssen alle bestehenden Systeme der sozialen Sicherung armuts­fest gemacht werden.” (S. 18 f.) Eine sanktionsfreie Mindestsicherung und eine Mindestrente, die beide Armut ausschließen und als Grundsockel in den bestehenden Sozialversicherungen gelten wären durchaus ein Fortschritt. Allerdings würden sie weiterhin die Gesellschaft spalten, und zwar in Transferbeziehende und in Steuerzahlende, die diese Transfers angeblich zahlen, was alle neoliberalen Sozialabbau-Strategen und BILD-Stimmungsmacher erfreuen dürfte. Diese Spaltung könnte nur durch ein Grundeinkommen aufgehoben werden, weil dies jeder und jedem zustünde.

Zweitens bemüht sich Spannagel um eine differenzierte Sicht auf das Grundeinkommen bzw. auf verschiedene Grundeinkommenskonzepte. Dies hebt sich wohltuend von Beiträgen einiger hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionäre ab, die das Grundeinkommen wahlweise als neoliberales Teufelszeug abtun, als linke utopische Spinnerei oder mit unbewiesenen Unterstellungen diskreditieren wollen. So zum Beispiel Ralf Krämer, seit 2002 Gewerkschaftssekretär beim ver.di-Bundesvorstand, Bereich Wirtschaftspolitik, und Sprecher der Sozialistischen Linken, einer Strömung der Partei DIE LINKE (siehe Website). Seinen jüngsten Beitrag überschrieb er “Bedingungsloses Grundeinkommen – Risiken und Nebenwirkungen”.  Anders als Dorothee Spannagel blendet er die Diskussion von Chancen durch das Grundeinkommen grundsätzlich aus. Ein anderes Beispiel ist der Ex-DGB Chef und Sozialdemokrat Michael Sommer, unter dessen Schröder-freundlicher Gewerkschaftsführung die SPD gemeinsam mit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CDU/CSU und FDP Hartz IV durchsetzen konnte. Dem Grundeinkommen warf er “Missachtung der Arbeit” vor (siehe Tagesspiegel 18. Februar 2012).

Zu ihrer Analyse verschiedener Grundeinkommensmodelle schreibt  Spannagel zusammenfassend: “Die vielen Konzepte eines bedingungslosen Grundeinkommen variieren stark – und mit ihnen die Chancen und Risiken, die von ihnen ausgehen.” (S. 2) Das ist nicht neu, wurde schon sehr oft diskutiert, publiziert und begründet (vgl. z. B. Büchele/Wohlgenannt 1985, Opielka/Stalb 1986, Blaschke 2010, Blaschke 2012 a, Gorz 1986 und 2000 u. a., AG links-netz). Neu ist aber, dass von einem Think-Tank des DGB nun öffentlich darauf hingewiesen wird, dass mit dem Grundeinkommen, “vor allem wenn es in existenzsichernder Höhe gezahlt wird, ein großer Gewinn an individueller Freiheit erreicht werden” könne (S. 11). Und weiter: “Zu groß ist meist, vor allem bei den neoliberalen Ansätzen, die Gefahr, dass der Sozialstaat sich weitgehend aus der Absicherung sozialer Risiken zurückzieht, dass zur Finanzierung des Grundeinkommens öffentliche Güter und Dienstleistungen privatisiert und dass Arbeitnehmerrechte deutlich beschnitten werden. All diese Gefahren gelten selbst dann, wenn die Höhe des bedingungslosen Grundeinkommens existenzsichernd ist, was eine Grundvoraussetzung ist, damit die Versprechen, die das Konzept so reizvoll machen – individuelle Freiheit und Autonomie dadurch deutlich zu erhöhen, dass Arbeit und Einkommen entkoppelt werden – auch gehalten werden können. Lediglich bei den emanzipatorischen Modellen scheint diese Gefahr zumindest zum Teil geringer zu sein, insbesondere da hier die individuellen Risiken weiterhin über kollektive Solidarsysteme abgesichert werden.” (S. 18) Politische Schlussfolgerung dieser Überlegungen wäre also, dass sich die DGB-Gewerkschaften – zumindest im freundlich gesonnenen Dialog – der emanzipatorischen Grundeinkommensidee öffnen, vorausgesetzt, sie finden die “deutliche” Erhöhung von individueller Freiheit und Autonomie so reizvoll wie die WSI-Mitarbeiterin Dorothee Spannagel.

Getrübt wird Spannagels Analyse allerdings dadurch, dass sie grundsätzliche Grundeinkommensthemen und umfassend entwickelte Grundeinkommenskonzepte ignoriert und die Konzepte in sich widersprüchlich bzw. ungenau betrachtet. Dazu unten mehr.

Trotzdem: Dieser Schwenk eines DGB-Instituts zu einer vergleichsweise differenzierten Analyse von Grundeinkommenskonzepten ist beachtenswert. Und zwar aus einem weiteren Grund:

Das dritte Bemerkenswerte: Der Report erscheint zum richtigen Zeitpunkt: In der Schweiz findet bald die Volksabstimmung zum Grundeinkommen statt, DIE LINKE widmet sich erstmals auf einem Parteitag ausführlich dem Grundeinkommen (wir berichteten), und die Einsetzung einer Bundestagsenquete-Kommission zum Grundeinkommen steht (eigentlich) auf der politischen Agenda (wir berichteten). Das heißt, angesichts des immer stärker werdenden öffentlichen und politischen Interesses für das Grundeinkommen im deutschsprachigen Raum kann der DGB gar nicht mehr umhin, sich der Debatte sachlich zu stellen. Er würde sich sonst selbst aus der öffentlichen Debatte ausgrenzen, was auch hieße, dass berechtigte gewerkschaftliche Kritik an bestimmten Grundeinkommenskonzepten nicht mehr gehört würde. Gewerkschaften würden als Konservative wahrgenommen, denen die Sicherung althergebrachter, inzwischen unzeitgemäßer Sozialpolitik wichtiger erscheint als zukunftsfähige Konzepte gewerkschaftskompatibel zu entwickeln und mitzugestalten, wie es z. B. der Gewerkschafterdialog Grundeinkommen oder viele ver.di-Basisorganisationen in Deutschland vorhaben. Beispielgebend für eine intelligente Einmischung in den Grundeinkommensdiskurs ist z. B. auch das Denknetz, der schweizerische gewerkschaftsnahe Think Tank. Ist mit dem jüngsten WSI-Report ein Schritt in diese Richtung beabsichtigt? Gibt es einen Gesinnungswandel beim DGB?

Kritik am Report

Der vorliegende Versuch, sich dem Zukunftsthema Grundeinkommen zu nähern, enthält viele grundsätzliche Schwächen. Sie zeigen, dass eine umfassende Analyse und Diskussion über das Grundeinkommen im WSI noch aussteht.

Fünf Beispiele dafür – die Liste ließe sich verlängern:

– Spannagel schreibt, Thomas Morus habe die Idee gehabt, dass Menschen sich auch ohne Erwerbsarbeit den Lebensunterhalt sichern könnten (S. 2). Das ist erstens schräg, weil Lohn-/Erwerbsarbeit zu Morus’ Zeiten nicht die dominante Form der Existenzsicherung war. Darüber hinaus plädiert Morus in seinem Werk “Utopia” keineswegs für eine arbeitsunabhängige Existenzsicherung, schon gar nicht für eine monetäre: Arme sollten Land zur Bearbeitung erhalten und damit ihren Lebensunterhalt sichern. Arme, die stehlen, statt ihren Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten, sollten zur Zwangsarbeit verurteilt oder in Arbeitshäuser gesteckt werden. Morus ist also eher ein Vordenker der repressiven Armenfürsorge bzw. Grundsicherung wie heute Hartz IV.

– Auch die Behauptung, dass das Grundeinkommen in keiner großen historischen Strömung verankert sei (S. 2), ist falsch. Das Grundeinkommen ist eng verknüpft mit der historischen Bewegung, naturrechtlich Menschenrechte, z. B. das Menschenrecht auf ein Grundeinkommen, zu begründen (beginnend mit Thomas Spence, dem Begründer der Grundeinkommensidee Ende des 18. Jahrhunderts, bis Joseph Charlier Mitte des 19. Jahrhunderts, vgl. Blaschke 2010, Kapitel 2). Im Fourierismus ist die Grundeinkommensidee verankert, seit sich Victor Considerant, ein Schüler von Charles Fourier, im Jahr 1837 klar zum Grundeinkommen positioniert hat (vgl. ebd., Kapitel 5). Selbst bei Marx ist die Idee angelegt, wenn auch nicht entwickelt. Davon zeugen die marxistisch geprägten Begründungen des Grundeinkommens von André Gorz (2000), Michael Hardt und Antonio Negri (2003 und 2010) u. a.

– Wenn Spannagel Chancen und Risiken eines existenzsichernden, d. h. emanzipatorischen Grundeinkommens beleuchtet, erwähnt sie nur die autonomiestärkende Ausstiegsmöglichkeit aus der Erwerbsarbeit, insbesondere aus ethisch nicht vertretbaren Jobs oder solchen mit schlechten Arbeitsbedingungen (S. 13). Darüber, dass erstens das Grundeinkommen grundsätzlich die Verhandlungsmacht der von Lohnarbeit Abhängigen stärkt – sowohl beim Aushandeln konkreter Arbeitsbedingungen bis hin zur als auch bei  demokratischer Mitgestaltung des Produktionszwecks – schreibt sie nichts. Die Demokratisierungsfunktion des Grundeinkommens lässt sie vollkommen außer Betracht. Ebenso diskutiert sie nicht, dass das Grundeinkommen die Arbeitszeitbedingungen ändern könnte: kürzere und selbstbestimmtere Arbeitszeit für Einzelne und kürzere Vollzeit für alle. Menschen könnten selbst entscheiden, wie sie bezahlte und unbezahlte Tätigkeiten oder Mußezeit kombinieren. Dass Spannagel dies nicht diskutiert, ist umso verwunderlicher, als sie mehrfach Georg Vobruba zitiert, der auf derartige Effekte des Grundeinkommens hinweist. Einschlägige Anregungen hätte sie sich auch bei André Gorz holen können (zu Vobruba und Gorz siehe Blaschke 2010, Kapitel 6.4.1. f.). Dann hätte sie auch kaum behauptet, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie werde durch das Grundeinkommen schwieriger (S. 13). Ein gängiges Argument gegen das Grundeinkommen ist, dass es wie ein Kombilohn wirke: Menschen nähmen auch sehr schlecht bezahlte Jobs an, weil der Staat ja noch etwas drauflegt. Das Lohnniveau würde deshalb sinken. Diese Befürchtung teilt Spannagel. Andererseits rechnet sie als Folge eines existenzsichernden Grundeinkommens durchaus mit einer Lohnsteigerung, weil Erwerbstätige dann eben nicht mehr jede miserabel bezahlte Stelle annehmen. Diesen Widerspruch diskutiert Spannagel ebenso wenig wie  Arbeitszeitverkürzung und Zeitsouveränität. Hier wird deutlich, dass sie Georg Vobruba – obwohl sie ihn öfters als Beleg für Aussagen anführt – nicht ernsthaft rezipiert hat, sonst hätte sie seine Argumente bzgl. der emanzipatorischen Regulation des Arbeitsmarktes durch das Grundeinkommen berücksichtigt (dazu Blaschke 2010, Kapitel 6.4).

– Vollkommen unbekannt scheinen Dorothee Spannagel die Ergebnisse feministischer und postpatriarchalischer Debatten zum Grundeinkommen zu sein, sonst könnte sie nicht so blauäugig über die Auswirkungen eines Grundeinkommens auf Frauen diskutieren (S. 12; zur Debatte mehr auf grundeinkommen.de)

– Spannagel widerspricht sich selbst, wo es um die Motivation zur Arbeit geht. Einerseits schreibt sie: “Bislang dient Erwerbstätigkeit bei weitem nicht nur der ökonomischen Sicherung der eigenen Existenz, sie ist auch eng mit Teilhabeprozessen verknüpft, auf denen die Integration in die Gesellschaft beruht.” (S. 11 f.) Andererseits fragt sie wie viele Grundeinkommensskeptiker: “Verändert sich durch das bedingungslose Grundeinkommen die Motivation, einer Erwerbsarbeit nachzugehen? […] Nur wenn genug Werte erwirtschaftet werden, hat der Staat den notwendigen materiellen Verteilungsspielraum. Deshalb muss bei der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, egal welcher Art, immer das Problem des Arbeitsanreizes gelöst werden. Wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen in existenzsichernder Höhe gibt, werden dann noch genug Personen bereit sein, etwa im Pflegebereich, im Reinigungssektor oder in der Landwirtschaft zu arbeiten?” (S. 16) Hier offenbart sich die klassische Gespaltenheit der erwerbsarbeitsorientierten TheoretikerInnen: Ist Erwerbsarbeit wirklich mehr als nur ökonomische Sicherung? Oder muss man Angst haben, dass Menschen massenhaft vor der Erwerbsarbeit fliehen, wenn die Peitsche der existenziellen Not entfällt? Ist also die bestehende Form der Erwerbsarbeit (und die darauf basierende Teilhabe und Integration) doch nur eine ökonomisch erpresste Zwangsveranstaltung? Und wäre dann das Festhalten an einer zwar arbeitsunabhängigen, aber weiterhin bedürftigkeitsgeprüften Grund-/Mindestsicherung so etwas wie der Versuch, einer Massenflucht vor der Erwerbsarbeit vorzubauen, weil zunächst nämlich das Vermögen (bis auf einen Freibetrag) aufgezehrt werden müsste, bevor man die Grund-/Mindestsicherung erhält?

Das sind nur einige Beispiele, die zeigen, dass eine gründliche Diskussion über das Grundeinkommen beim WSI noch aussteht. Hätte sich das WSI mehr mit grundsätzlichen Grundeinkommensthemen (sozial- und arbeitsmarktpolitischen, feministischen, ethischen, demokratietheoretischen, ökologischen und menschenrechtlichen) auseinandergesetzt, wäre der Report qualifizierter ausgefallen.

Zur weiteren Diskussion gehört auch, sich intensiver mit den konkreten Grundeinkommenskonzepten auseinanderzusetzen,

– die Spannagel erstens selbst vorstellt, denn sie hat bei weitem nicht alle wesentlichen Ziele und Ausgestaltungsmerkmale erfasst;

– die Spannagel zweitens überhaupt nicht erwähnt hat, so z. B. das Konzept der SPD Rhein-Erft oder der BAG Grundeinkommen DIE LINKE (vgl. die Übersicht in der von ihr angeführten Literatur – Blaschke 2012 b, zur BAG Grundeinkommen DIE LINKE auch hier).

Falsche und widersprüchliche Aussagen im WSI-Report hätten bei einer intensiven Auseinandersetzung mit diesen Konzepten vermieden werden können, z. B. die,

– dass die FDP mit dem liberalen Bürgergeld ein Grundeinkommenskonzept vorgelegt hätte (S. 2),

– dass für eher linke Grundeinkommenskonzepte die Abschaffung und Bekämpfung der Armut nur eine geringe Rolle spielen würde (S. 9, dagegen S. 15),

– dass individuelle (Sonder-)Bedarfe über das Grundeinkommen hinaus nicht oder nur schwer berücksichtigt werden könnten (S. 13, dagegen S. 15 und 17).

Seltsam ist auch die Behauptung, das Reiche mit einem Grundeinkommen reicher werden könnten (was bei den von ihr genannten Konzepten nur für diejenigen von Althaus und Werner gilt), dies “sich allerdings mit einer progressiven Besteuerung von Erwerbs- und Vermögenseinkommen abfedern ließe” (S. 17) – als ob sich nicht im Gegenteil mit emanzipatorischen Konzepten nachgewiesenermaßen eine radikale Umverteilung von oben nach unten erreichen ließe (vgl. die von Spannagel herangezogene Literatur zu Konzepten in Blaschke 2012 b, oder auch das Konzept der BAG Grundeinkommen DIE LINKE).

Fazit:

Der hier besprochene Report des WSI ist bemerkenswert,

– weil er sich in einer dem Thema Grundeinkommen angemesseneren Form nähert als manche “Kampfschrift” hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionäre gegen das Grundeinkommen, und

– weil er versucht, unterschiedliche Grundeinkommensansätze zu differenzieren, eine pauschale Ablehnung des Grundeinkommens nicht vornimmt und zumindest mit einigen Kernaussagen emanzipatorische Grundeinkommenskonzepte stützt. Kritikwürdig sind die unzulängliche Beschäftigung mit grundsätzlichen Grundeinkommensthemen und die unzureichende bis fehlerhafte Analyse in Deutschland diskutierter Grundeinkommenskonzepte.

Zum Schluss eine kleine Anregung zum Weiterdenken, nicht nur für die erwerbsarbeitswirtschaftlich denkenden ÖkonomInnen des WSI. Spannagel fragt:

“Verändert sich durch das bedingungslose Grundeinkommen die Motivation, einer Erwerbsarbeit nachzugehen? Damit eine Gesellschaft funktionieren kann, ist sie notwendigerweise auf Erwerbsarbeit angewiesen. Auch müssen bestimmte Dienstleistungen unbedingt erbracht bzw. zentrale Güter produziert werden. Dass der Staat ausreichend Geld hat, um dieses als bedingungsloses Grundeinkommen an alle seine Bürger auszuzahlen, setzt öffentlichen Reichtum voraus: Nur wenn genug Werte erwirtschaftet werden, hat der Staat den notwendigen materiellen Verteilungsspielraum.” (S. 16). Dazu ist dreierlei zu sagen:

– Für einen “Anreizpessimismus” gibt es keinen realistischen Anlass. Auch mit einem Grundeinkommen, das ja immer nur in Höhe eines Existenz- und Teilhabeminimums gedacht wird, ist die Motivation groß, ein zusätzliches Einkommen zu erzielen. Außerdem würde – anders als bei der jetzigen Grundsicherung – bei einem Grundeinkommen nicht ein Großteil der zusätzlichen Erwerbseinkommen verrechnet, was für einen zusätzlichen Schub in Richtung Erwerbsarbeit sorgt.

– Es stimmt nicht, dass Gesellschaften “notwendigerweise” nur mit Erwerbsarbeit funktionieren. Menschheitsgeschichtlich ist der Zeitraum, in den Gesellschaften vorrangig oder überhaupt über Erwerbsarbeit “funktionierten”, der kürzeste. Außerdem funktioniert auch heute keine Gesellschaft ohne die quantitativ größere Anzahl von Arbeitsstunden jenseits der Erwerbsarbeit (unbezahlte Sorgearbeit, Arbeit am Gemeinwohl durch politisches und bürgerschaftliches Engagement und Bildung).

– Verteilbarer Reichtum an Gütern und Dienstleistungen ist nicht identisch der in Werteinheiten verdeutlichten Menge an Inwertsetzung von Gütern und Dienstleistungen durch Erwerbsarbeit und dadurch generiertes Erwerbseinkommen. Dass Erwerbsarbeit zur Produktion und Verteilung notwendiger Güter und Dienstleistungen und für das Funktionieren eines Gemeinwesens nicht nötig ist, zeigt der russische Wirtschaftsnobelpreisträger Wassily Leontief mit dem Paradies-Paradoxon, einem Gedankenspiel. Dieses ist angesichts der Debatten um Industrie 4.0 wieder hoch aktuell ist: Wenn die Produktion von Gütern und bestimmten Dienstleistungen immer weiter automatisiert wird, wenn also eine ausreichende Menge dieser Güter und Dienstleistungen vorhanden wäre (= Reichtum), könnten wir trotzdem nicht über sie verfügen, weil kein oder zu wenig Geld über Erwerbsarbeit verdient wird, um sie zu kaufen. Reichtum an Gütern und Dienstleistungen führt in diesem Falle also nicht zur Befriedigung der Bedürfnisse. Das Paradies-Paradoxon besteht nun darin, dass wir trotz der “paradiesischen” Fülle an Gütern und Dienstleistungen verarmen, zugespitzt sogar verhungern. Neue Produktionsformen brauchen daher neue Distributionsformen – nämlich eine Verteilung, die sich von der Erwerbsarbeit mehr und mehr entkoppelt, z. B. über Grundeinkommen und gebührenfreie Zugänge zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen. Das sind zwei Seiten einer Medaille, die Spannagel übrigens bei emanzipatorischen Grundeinkommenskonzepten und ihrer weiteren Diskussion des Grundeinkommens ebenfalls vollkommen übersieht. (Mehr dazu in Blaschke 2010, Kapitel 3.2 und bei der AG links-netz.) Das heißt übrigens auch, dass tendenziell und auf lange Sicht ein Grundeinkommen immer weniger aus der Besteuerung der Erwerbsarbeit (Einkommensteuer) oder durch Konsumsteuern auf Güter und Dienstleistungen, die durch Erwerbsarbeit produziert wurden, zu finanzieren ist –  öffentliche Güter ebenfalls nicht. Existenz und Teilhabe müssen vielmehr durch eine von solchen Steuern unabhängige, demokratisch-politisch regulierte Verteilung gewährleistet werden, sei es durch Anteilsscheine, grundsätzlich freie Zugänge zu Gütern und Dienstleistungen etc. – bedingungslos und für alle (vgl. dazu auch Gorz 2000, S. 128 ff.)

Literatur

AG links-netz, Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur; http://www.links-netz.de/K_texte/K_links-netz_sozpol.html

Blaschke, Ronald (2010), Denk’ mal Grundeinkommen! Geschichte, Fragen und Antworten einer Idee, in: Blaschke, Ronald/Otto, Adeline/Schepers, Norbert (Hrsg.), Grundeinkommen : Geschichte – Modelle – Debatten. Berlin, S. 9-262

Blaschke, Ronald (2012 a), Von der Idee des Grundeinkommens zur politischen Bewegung in Europa – Entwicklung und Fragen, in: Blaschke, Ronald/Otto, Adeline/Schepers, Norbert (Hrsg.), Grundeinkommen – Von der Idee zu einer europäischen politischen Bewegung. Hamburg, S. 17-62

Blaschke, Ronald (2012 b), Aktuelle Ansätze und Modelle von Grundsicherungen und Grundeinkommen in Deutschland, in: Blaschke, Ronald/Otto, Adeline/Schepers, Norbert (Hrsg.), Grundeinkommen – Von der Idee zu einer europäischen politischen Bewegung. Hamburg, S. 118-245

Büchele, Herwig/Wohlgenannt, Lieselotte (1985), Grundeinkommen ohne Arbeit. Auf dem Weg zu einer kommunikativen Gesellschaft, Wien

Gorz, André (1986), Garantierte Grundversorgung aus rechter und linker Sicht, in: Opielka, Michael/Vobruba, Georg (Hrsg.), Das garantierte Grundeinkommen. Entwicklung und Perspektiven einer Forderung, Frankfurt/Main, S. 53-62

Gorz, André (2000), Arbeit zwischen Misere und Utopia, Frankfurt/Main

Hardt, Michael/Negri, Antonio (2003), Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/Main, New York

Hardt, Michael/Negri, Antonio (2010), Common Wealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt/Main, New York

Opielka, Michael/Stalb, Heidrun (1986), Das garantierte Grundeinkommen ist unabdingbar, aber es genügt nicht, in: Opielka, Michael/Vobruba, Georg (Hrsg.), Das garantierte Grundeinkommen. Entwicklung und Perspektiven einer Forderung, Frankfurt/Main, S. 73-97

3 Kommentare

w. Heimann schrieb am 30.05.2015, 09:49 Uhr

Vielen Dank für den Artikel, der einen Sinneswandel beschreibt. Leider hält sich die Ansicht, dass ein Grundeinkommenskonzept, wie Götz Werner es vorschlägt, die Reichen noch reicher machen würde. Das stimmt aber nicht. Daher ist es auch irreführend, die Konzepte mit \"emanzipatorisch\" und \"neoliberal\" zu etikettieren. Emanzipatorisch bedeutet fortschrittlich, modern, richtungsweisend, wegweisend, zeitgemäß, zukunftsorientiert. Neoliberal gilt heute als Beschimpfung, kurz gesagt als Durchsetzung eigener Interessen.

Da sich das Netzwerk Grundeinkommen diese Etikettierung zu eigen gemacht hat, ist es schade, dass im Netzwerk hierüber nicht diskutiert wird. Denn nicht nur, dass die Reichen nicht reicher werden. Die Verschuldung des Staates und der Unternehmen geht auch zurück und damit schwindet die Übermacht der Banken und Investoren. Dieser Zusammenhang wird erst deutlich, wenn das Emanzipatorische eines über die Konsumsteuer finanzierten BGE diskutiert wird.

Hans Hasenklein schrieb am 30.05.2015, 11:04 Uhr

Die Gewerkschaftsbosse werden das BGE niemals wollen, auch wenn es in den Gewerkschaften sicher Einzelne gibt, die der Idee positiv gegenüberstehen. Mit BGE würden schließlich Gewerkschaften, deren Bürokratie und Funktionäre über Nacht überflüssig, da jeder individuell streiken könnte, ohne sein Einkommen zu verlieren.

Stephan Härtl schrieb am 01.06.2015, 21:39 Uhr

Gewerkschaften und mit ihnen die SPD sind traditionell fokussiert auf ArbeitnehmerInnen und Erwerbsarbeit. Sie befürchten, dass ihnen mit dem BGE die Geschäftsgrundlage entzogen wird. Dem ist aber nicht so, denn auch mit einem BGE müssen die Arbeitsbedingungen tariflich ausgehandelt werden, weil auch im Interesse der Arbeitgeber Standards zu setzen sind. Obwohl die Position des Einzelnen wesentlich gestärkt ist, wird er Tarife zu schätzen wissen und sich Gewerkschaften eher als heute anschließen wollen, denn er muss nicht mehr befürchten, wegen seiner tariflichen Forderungen beim Arbeitgeber in Ungnade zu fallen. Die Option, Arbeitsangebote allesamt abzulehnen, wird wohl eher die Ausnahme sein.

Es ist schon verwunderlich, dass die Gewerkschaften die Chancen nicht erkennen, sich mit selbstbewussten ArbeitnehmerInnen zusammenzutun. Lieber delegieren sie wegen anhaltender Schwäche ihre Arbeit an den Gesetzgeber (Mindestlohn), der seinerseits überfordert ist, das umfänglich zu managen.

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