Irgendwann kommt kein Saft mehr raus

Brit Immerthal 03.08.2014 Druckversion

Schlaflosigkeit scheint auf den ersten Blick ein individuelles Problem zu sein. Der Schein trügt jedoch, wie schon der Titel „Die schlaflose Gesellschaft“ der NDR-Produktion von Michael Heuer vermuten lässt. Tatsächlich ist Schlaflosigkeit längst zur Volkskrankheit geworden, von der mindestens vier Millionen Bundesbürger betroffen sind. Einer der Hauptgründe dürfte in den krankmachenden Folgen der Erwerbsarbeit zu finden sein.

Der Beitrag beginnt mit dem Alltag einer Frau fortgeschrittenen Alters, die als Reinigungskraft in einem städtischen Schwimmbad arbeitet. Zum anstrengenden Schichtdienst kommen körperliche Beschwerden und die Angst um den Arbeitsplatz. Beim Einschlafen versucht die Frau, sich Strände oder Gärten vorzustellen, aber dann taucht wieder ihr Arbeitsplatz auf und es laufen die Tränen. Ihr größter Wunsch ist es, mal wieder acht Stunden am Stück durchzuschlafen.

So wie diese Frau nehmen viele Erwerbstätige Probleme beim Arbeitsplatz mit in den Schlaf, der sich dann nicht einstellen will. Ein Anlageberater berichtet, dass er den Wandel seines Berufs vom Berater zum Verkäufer nicht verarbeiten konnte. Völlig überdreht vom Tagesgeschäft, findet er nachts keine Ruhe. Ähnliches berichten Betroffene aus Pflegeberufen, die eigentlich nur ihre Arbeit gut machen wollen. Aber im „Haifischbecken“ Berufsleben wird jede Pause, jeder Stillstand als Rückschritt gewertet.

Um den Arbeitsstress überhaupt noch bewältigen zu können, greifen viele Erwerbstätige zu Hilfsmitteln. Von 1,2 Millionen Schlafmittelabhängigen spricht der NDR-Beitrag. Dazu kommt gerade bei den sogenannten Hochleistungsträgern eine fatale Kombination aus „Downern und Uppern“, also Beruhigungs- und Aufputschmitteln. Die Dunkelziffer der Abhängigen dürfte sehr hoch sein. Zu viele Ärzte hinterfragen die Gründe von Schlaflosigkeit nicht, sondern verschreiben einfach Tabletten. Bequemerweise gibt es sogar „Nahrungsergänzungsmittel“ mit dem eigentlich verschreibungspflichtigen Melatonin in jeder Drogerie zu kaufen.

Betriebsärzte reden das Problem klein, wie ein Mitschnitt des Verbunds der Betriebsärzte zeigt. Ein Professor warnt gar davor, Arbeit schlecht zu machen und psychische Probleme „herbeizureden“. Die Management-Ebene sieht den Mitarbeiter nur als Zahl. Außerdem, so konstatiert eine Psychologin: „Menschen in Führungspositionen sind nicht wirklich gesünder als normale Arbeitnehmer. Wenn derjenige nicht für sich selbst sorgen kann, wie soll er dann für die Gesundheit seiner Mitarbeiter sorgen?“

So werden systemische Probleme auf das Individuum abgewälzt, und während die Wirtschaft mit der „Wegwerfware“ Mensch Gewinne macht, trägt die Folgekosten (Therapie, Frühverrentung etc.) die Solidargemeinschaft. Da es an politischem Willen zur Veränderung mangelt, wird sich diese fatale Spirale weiter drehen. Ein Professor für Schlafmedizin fragt zu Recht: „Ist die Gesellschaft eher bereit, Abhängigkeit von Schlaf- und Aufputschmitteln zu ertragen, als die Belastung durch Arbeit anders anzugehen?“

Ich kann über die Leidensfähigkeit dieser Gesellschaft nur staunen. Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen mindestens in der Höhe von 1000 Euro im Monat wäre doch nur folgerichtig und zudem spottbillig im Vergleich zu den Folgekosten des jetzigen Systems. Wann erlauben wir es uns, das bisher Undenkbare zu denken: Ein Leben frei vom Zwang zur Erwerbsarbeit?
Damit die Gesellschaft endlich wieder schlafen kann!

Ein Kommentar

wolfmeier schrieb am 15.08.2014, 08:22 Uhr

Ob man immer erreichbar sein muss? Bestimmt nicht, wenn man die Entscheidungsabläufe regelt und sich selbst nicht überschätzt. Aber dieses Problem mit einem Grundeinkommen zu lösen? Das ist eher eine Aufgabe für Genetiker, denn der Mensch passt sich zu langsam an die allgemeinen Veränderungen an.

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