Erstes Pilotprojekt zum Grundeinkommen in Deutschland

Reimund Acker 03.09.2020 Druckversion

Die erste Langzeitstudie in Deutschland zum Grundeinkommen wurde am 18. August mit der Freischaltung einer Bewerbungsseite im Internet gestartet. Die Studie ist ein gemeinsames Pilotprojekt des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und des Vereins Mein Grundeinkommen. Beteiligt sind ferner Wissenschaftler der Universität zu Köln sowie des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern. Finanziert wird die Studie von derzeit rund 150.000 privaten Spendern.

Die Studie geht davon aus, dass ein Grundeinkommen für alle nur dann machbar ist, wenn es

  1. individuell und kollektiv positive Wirkungen entfaltet,
  2. finanzierbar ist, und
  3. den Anreiz zu bezahlter Erwerbsarbeit nicht zu stark senkt.

Daher besteht die Gesamtstudie aus drei Einzelstudien, die prüfen sollen, ob sich jede dieser drei Voraussetzungen erfüllen lässt.

Michael Bohmeyer

Denn ob dies der Fall ist und ein Grundeinkommen tatsächlich funktionieren würde, davon ist auch der Initiator des Projekts, Michael Bohmeyer, nicht überzeugt. Bohmeyer ist durch seinen Verein Mein Grundeinkommen bekannt geworden, der einjährige 1000-Euro-“Grundeinkommen” verlost. Bohmeyer auf die Frage in einem ZEIT-Interview, warum er keine Petition zur Einführung des Grundeinkommens unterschrieben habe: “Ich möchte nichts fordern, solange ich nicht sicher bin, dass es funktioniert.” [1] Warum dieses Projekt? Bohmeyer: “Wir wollen herausfinden, wie ein bedingungsloses Grundeinkommen Menschen und Gesellschaft verändert. Wir wollen wissen, was es mit Verhalten und Einstellungen macht und ob das Grundeinkommen helfen kann, mit den gegenwärtigen Herausforderungen unserer Gesellschaft umzugehen.” [6]

Jürgen Schupp

Und Studienleiter Jürgen Schupp vom DIW, Professor für Soziologie an der FU Berlin, betont: “Diese Studie ist eine Riesenchance, um die uns seit Jahren begleitende theoretische Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen in die soziale Wirklichkeit überführen zu können.” [6]

Dabei liegt dem Projekt ein Grundeinkommensbegriff zugrunde, der die Kriterien des Netzwerks Grundeinkommen erfüllt: “Alle Menschen bekommen ein Leben lang monatlich Geld vom Staat, das individuell garantiert und ohne Gegenleistung ausgezahlt wird – ohne Bedürftigkeitsprüfung, ohne Zwang zur Arbeit, existenz- und teilhabesichernd.” [2]

Die Höhe des Projekt-Grundeinkommens orientiert sich an der vom Statistische Bundesamt für 2018 berechneten Armutsgefährdungsgrenze von monatlich 1.135,67 Euro für Alleinstehende und liegt mit 1.200 Euro knapp darüber. [4], [8]

Die Teilnehmer des Projekts werden so ausgewählt, dass sie einen repräsentativen Querschnitt der Gesamtbevölkerung bilden hinsichtlich Alter, Wohnort, Geschlecht, Kinderzahl, Haushaltsgröße, Schulbildung, Einkommen, Sozialleistungen und Meinung zum Grundeinkommen. Dazu wurden zunächst öffentlich Bewerber für die Teilnahme gesucht, die mindestens 18 Jahre alt sind und ihren ersten Wohnsitz in Deutschland haben. Man wollte 2 bis 3 Monate warten, bis mindestens eine Million Bewerbungen eingegangen wären, doch das war bereits nach 3 Tagen erreicht. Man kann sich aber weiter wie geplant bis zum 10. November bewerben. Durch Abgleich mit Daten des Statistischen Bundesamts und anschließenden Zufallsverfahren werden nun aus den Bewerbern die 1.500 Teilnehmer der Studie 1 ausgewählt. Von ihnen erhalten 120 das “Grundeinkommen”, die restlichen 1.380 bilden die Kontrollgruppe und bekommen kein Geld. Nur so können die Forscher herausfinden, ob beobachtete Änderungen tatsächlich auf das Grundeinkommen zurückzuführen sind. Je nach Spendenaufkommen bis zum 10.11. kann die Versuchsgruppe für Studie 2 und 3 noch vergrößert werden. Für Studie 1 liegt die Gruppengröße (120) bereits fest.

Die Studie 1 soll die Frage klären: “Was wäre der maximale Nutzen eines idealisierten Grundeinkommens ohne Finanzierungsmodell?” Dazu erhalten die 120 Teilnehmer der Versuchsgruppe 3 Jahre lang 1.200 Euro monatlich zusätzlich zu ihren anderen Einkünften. Da die Zahlungen steuerrechtlich als Schenkungen mehrerer Schenker gestaltet werden, sind sie steuerfrei. Bei bedürftigkeitsgeprüften Leistungen wie Hartz IV wird der Betrag allerdings angerechnet. Die Auszahlung beginnt im Frühjahr 2021. Alle 6 Monate sollen die 1.500 Teilnehmer einen Online-Fragebogen ausfüllen, mit Fragen zu Lebenszufriedenheit, Stress, Gesundheit und Existenzangst. Sogar Haarproben werden analysiert, zur Messung des Stresslevels. Weitere Fragen betreffen individuelle Verhaltens- und Einstellungsänderungen in allen Lebensbereichen, individuelle Auswirkungen auf das Arbeitsangebot, die Löhne und die Jobwahl, sowie Änderungen mit möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen in den Bereichen Digitale Revolution, Arbeit, Zusammenhalt, Demokratie und Umwelt. Mit einigen Teilnehmern werden zusätzlich sogenannte Tiefeninterviews geführt.

Nur wenn Studie 1 zeigt, dass das Grundeinkommen deutliche positive Effekte erzeugt, folgen Studie 2 und 3.

In Studie 2 wird die Frage untersucht, wie stark die Effekte aus Studie 1 noch sind, wenn es statt „mehr Geld“ nur „mehr Sicherheit“ gibt – zu deutlich geringeren Kosten für die Allgemeinheit. Dazu werden die Einkommen von Versuchsteilnehmern lediglich auf 1.200 Euro aufgefüllt, sofern sie darunter liegen; es wird also bloß ein Mindesteinkommen garantiert.
Michael Bohmeyer: “Sollte herauskommen, dass [die positive Wirkung des GE] doch nur an mehr Geld liegt, wäre die Idee des Grundeinkommens wohl gescheitert.” [1]
Der Beginn der Studie 2 ist für 2022 geplant.

Als letztes wollen die Wissenschaftler noch die Frage behandeln, wie ein realistisches Finanzierungskonzept aussehen kann. Dazu erhalten in Studie 3 alle Probanden wieder 1.200 Euro, die aber dieses Mal mit einer simulierten Steuer von 50 Prozent auf alle sonstigen Einkünfte verrechnet werden. Nur die Differenz wird ausgezahlt. Auch hier geht es wieder darum, ob die beobachteten Effekte Änderungen durch ein solches Grundeinkommen erwarten lassen, die groß genug wären, um den Aufwand zu rechtfertigen. Hierbei wird also offenbar davon ausgegangen, dass eine 50-prozentige Einheitssteuer (“flat tax”) auf alle Einkommen bei einem BIP von derzeit ca. 3,5 Billionen Euro ein Grundeinkommen von 1.200 Euro finanzieren könnte.
Geplanter Start der Studie 3 ist 2023.

Den Wissenschaftlern sind allerdings auch die Grenzen ihrer Studien bewusst: Sie können zum Beispiel nicht voraussagen, wie ein zeitlich unbegrenztes Grundeinkommen wirken würde, wie sich Produktion, Konsum, Preise und Löhne ändern würden, wie sich Werte und Kultur auf gesellschaftlicher Ebene wandeln würden, und welche Effekte die zur Finanzierung des Grundeinkommens nötigen Steuern hätten.
Diese Beschränkungen würden sich teilweise aufheben lassen, wenn der Staat ein langfristiges und regional flächendeckendes Pilotprojekt durchführen würde. Derartige Experimente fordern derzeit Volksentscheide in Berlin, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Brandenburg im Rahmen der Initiative Expedition Grundeinkommen.

Auch wenn der Verein Mein Grundeinkommen das Crowdfunding für dieses Projekt organisiert, so ist er doch nicht Auftraggeber der Studie. Sie wird weder von dem Verein noch von seinen Spendern bezahlt, sondern von den beteiligten Forschungseinrichtungen; weil die beteiligten Wissenschaftler diesen Forschungsgegenstand interessant und wichtig finden; die Spender aber sorgen dafür, dass der existiert.

 

Quellen:

[1] Die Zeit vom 20.8.2020, S, 20
[2] Projektmappe
[3] Bayerischer Rundfunk
[4] Statistisches Bundesamt
[5] SWR
[6] Hamburger Abendblatt
[7] Projekt-Website
[8] FAQs im Pressekit der Projekt-Website
[9] Video der Pressekonferenz zum Projekt

Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Informationen zu dem Projekt von [2] und [7].

Bilder: https://www.pilotprojekt-grundeinkommen.de/info/presse

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