Mindestlohn jetzt – Grundeinkommen so bald wie möglich

Herbert Wilkens 05.07.2013 Druckversion

Aktuell ist ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn dringend nötig, um Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie abzuwehren. Auch wenn das bedingungslose Grundeinkommen erreicht ist, wird der Mindestlohn wahrscheinlich gebraucht.

Wer gesellschaftliche Verbesserungen anstrebt, sollte vom Hier und Jetzt ausgehen. Einige der Hauptprobleme heute:

  • Verschiebung der Einkommensverteilung von unten nach oben in skandalösem Ausmaß während der letzten Jahrzehnte
  • Prekarisierung weiter Bereiche des Arbeitsmarkts, vor allem durch schlecht bezahlte Teilzeit- und Minijobs, befristete Arbeitsverträge, Leiharbeit und Scheinselbstständigkeit
  • Menschenrechtsverletzungen bei den Schwächsten in der Erwerbshierarchie, vor allem durch Niedriglöhne, Zwangsarbeit und Abschottung der EU nach außen

Zusammengenommen gefährden diese Tendenzen den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und den Bestand unserer demokratischen Staatsform. Abhilfe ist dringend erforderlich.

Diese Fehlentwicklungen wurden wesentlich dadurch begünstigt, dass mit Hartz IV im Transfersystem der Druck auf die Arbeitskräfte erhöht wurde. Entsprechend können die Missstände reduziert werden, wenn durch ein BGE der Druck wieder abgebaut wird. Hätten wir das bedingungslose Grundeinkommen (in der Form, die den Kriterien des Netzwerks Grundeinkommen entspricht), so wären diese Probleme zu einem großen Teil gelöst oder zumindest besser beherrschbar. Wir sind auf gutem Weg, das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) zu erreichen, aber dieser Weg wird noch lang sein und wir werden viele Jahre brauchen. Eine übergroße Mehrheit der Bürger erkennt weder die Notwendigkeit noch den Nutzen. Bis es so weit ist, dürfen die drängenden gesellschaftlichen Probleme nicht vernachlässigt werden.

Es wäre wenig hilfreich, gedanklich unmittelbar in eine Welt mit etabliertem BGE – und zwar in existenz- und teilhabesichernder Höhe – hineinzuspringen und so zu tun, als sollten unsere aktuellen Probleme vor diesem Hintergrund gelöst werden. Wo wären diese Rahmenbedingungen hergekommen, und vor allem wie?

Wir sollten das Ziel nicht aus den Augen verlieren, dabei aber die aktuellen Aufgaben anpacken. Über Zwischenschritte zum Grundeinkommen ist auf dieser Website vielfach berichtet worden (siehe auch einige aktuelle Büchveröffentlichungen). Auf dem Weg zu einem echten BGE kommen wir wohl nicht an einem generellen gesetzlichen Mindestlohn vorbei, weil die Schritte in Richtung Grundeinkommen stets so ausfallen, dass zumindest in der Übergangszeit die Bedingungsfreiheit und der erforderliche Betrag nicht erreicht werden und gleichzeitig die gesellschaftlichen Risiken aus den oben genannten Problemfeldern unverzüglich entschärft werden müssen.

Es ist nicht hinnehmbar, dass Menschen ein so geringes Einkommen haben, dass es zum Lebensunterhalt nicht genügt – umso mehr, wenn es Menschen trifft, die in normalen Unternehmen Vollzeit arbeiten. Sie haben dann Anspruch auf staatliche Unterstützung, die ihrerseits nicht einmal voll zur Existenzsicherung und zur – auch nur bescheidenen – Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausreicht. Es gilt, dieses Aufstockungs-Unwesen sofort zu unterbinden.

Dies wäre mit unterschiedlichen Maßnahmen erreichbar. Vielen fällt als Erstes eine rigorose Regulierung der Arbeitsverhältnisse ein – wegen der vielen Schlupflöcher ein sehr kompliziertes Unterfangen.

Eine andere Lösung wäre die Abschaffung der Arbeitspflicht in der Grundsicherung einfach durch Wegfall der Sanktionen bei Hartz IV. Den beschriebenen Missstand des Aufstockens kann es ja nur geben, weil die Grundsicherung mit einer Arbeitspflicht verbunden ist. Sonst könnten die Beschäftigten Arbeitsplätze mit zu geringen Hinzuverdiensten ablehnen. Zur Abschaffung der Sanktionen sind allerdings die meisten Politiker und Bürger nicht bereit, weil sie eine Lawine an Hartz-IV-Anträgen befürchten.

Unter den gegebenen Bedingungen ist ein allgemeingültiger gesetzlicher Mindestlohn die beste Lösung. Allerdings behebt der Mindestlohn die Aufstockerei nur bei Vollzeit-Beschäftigten, und auch bei ihnen nur, wenn sie keine Angehörigen zu versorgen haben. Die verbleibende Lücke muss weiterhin – bis zur Einführung des BGE – von dem System der Sozialen Sicherung geschlossen werden.

In fast allen anderen europäischen Ländern sehen wir, dass ein Mindestlohn die Verteilung gleicher machen kann, ohne nennenswerte ökonomische Probleme zu verursachen. Zahlreiche empirische Analysen haben nachgewiesen, dass ein Mindestlohn nicht zu vermehrter Arbeitslosigkeit führt, sondern im Gegenteil über den Kaufkrafteffekt eine Stärkung der Wirtschaft bewirkt.

Unternehmen dürfen nicht weiterhin hohe Gewinne einstreichen, indem sie Niedrigstlöhne zahlen, die für die Erwerbstätigen zum Leben nicht reichen. Solche Kostensenkungen – via Aufstockung finanziert von den Steuerzahlern (Kombilohn) – sind massive Subventionen, die zur Umverteilung von den Armen zu den Reichen beitragen. Diese Umverteilung ist nicht nur sozialschädlich (wie u.a. von Wilkinson und Pickett nachgewiesen wurde – siehe Bericht auf dieser Website), sondern sie verzerrt den Wettbewerb und entzieht sich überdies jeder demokratischen Kontrolle, weil verschleiert wird, dass es sich um eine Subvention handelt und unklar ist, in welchen Branchen und Unternehmen sie ankommt.

Mindestlohn auch mit Grundeinkommen erforderlich

Ob der allgemeingültige gesetzliche Mindestlohn auch noch nach Einführung des BGE erforderlich ist, ist unter Grundeinkommensbefürwortern umstritten. Auf dieser Website wurde dazu bereits öfters Stellung genommen, z.B. hier und in den Fragen und Antworten zum BGE. Dort heißt es:

    „Gegner des Mindestlohns argumentieren, dass es in erster Linie darauf ankomme, alle Menschen mit einem ausreichenden Einkommen auszustatten. Außerdem stärke ein Grundeinkommen die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern auch hinsichtlich der Lohnhöhe. Somit sei bei einem Grundeinkommen in ausreichender Höhe ein Mindestlohn nicht erforderlich. Die gestärkte Position des Arbeitnehmers erlaube es ihm, einen angemessenen Lohn für sich auszuhandeln. Er sei nicht mehr mit einem Hungerlohn abzuspeisen. …

    Befürworter sehen den Mindestlohn als Gewähr dafür, dass Erwerbsarbeit angemessen entlohnt wird. Ein Mindestlohn müsse bei Vollzeit-Erwerbsarbeit zu einem Einkommen deutlich über dem Grundeinkommen führen. Würde dies nicht erreicht, bestünde die Gefahr, dass der Anreiz zur Arbeitsaufnahme im unteren Einkommensbereich zu gering wäre und dadurch die Finanzierungsbasis für das Grundeinkommen geschmälert würde.“

Welche gesamtwirtschaftlichen Folgen ein BGE hätte, ist offen. Es mag sein, dass die gestärkte Position der Erwerbstätigen tatsächlich dazu führt, dass das Arbeitsangebot knapper wird. Nicht mehr jede Arbeit muss dann angenommen werden. Es gäbe die Möglichkeit, mehr Freizeit oder Familienzeit zu nehmen, und öfter würden Auszeiten von der Erwerbsarbeit beansprucht werden, z.B. zugunsten von Weiterbildung. Solche Verhaltensweisen würden dazu führen, dass sich auch im Bereich geringer Einkommen eine höhere Entlohnung einstellt.

Wahrscheinlicher scheint indes, dass in diesem Sektor des Arbeitsmarkts ein ähnliches Überangebot an Arbeitskraft bestehen bleibt wie heute. Der Druck auf die Löhne bliebe bestehen. Dies wäre zu erwarten, wenn das Grundeinkommen heutige Leistungen ersetzt und dabei so niedrig angesetzt wird, dass es gegenüber heute insgesamt keine soziale Verbesserung bringt. Nur ein Grundeinkommen, das eine soziale Verbesserung ist, wird unter sonst gleichen Bedingungen vermutlich das Angebot an Arbeitskraft verknappen, vor allem im Bereich gering bezahlter Arbeit. Wie der politische Kampf ausgehen wird, ist unsicher. Zu berücksichtigen ist schließlich auch, dass das Arbeitsangebot ebenfalls steigt, wenn die Staatsgrenzen für Zuwanderer durchlässiger werden – aus menschenrechtlichen Gründen eine wünschenswerte Entwicklung.

Unter diesen Umständen wäre im Niedriglohnbereich eine Entlohnung zu erwarten, die den eigentlichen Wert der Arbeit für die Unternehmen unterschreitet. Dies ist übrigens auch das Kalkül der Grundeinkommensvorstellung von Götz Werner und seinen Anhängern. Sie gehen davon aus, dass die Vollzeit-Löhne um den Betrag des Grundeinkommens zu kürzen wären. Im Niedriglohnbereich bliebe wenig mehr als Null übrig, also für das Unternehmen fast kostenlose Arbeit der eher gering qualifizierten Kräfte.

Auf längere Sicht – mit dem BGE – sollte die Aufgabenteilung zwischen den Wirtschaftsakteuren Staat einerseits und Unternehmen auf der anderen Seite nicht in die Richtung verändert werden, dass der Staat den Unternehmen Billig-Arbeitskräfte auf die Weise zur Verfügung stellt, dass ein Teil des Lohns als staatliche Subvention gezahlt wird (Kombilohn). Die Unternehmen haben vielmehr die Aufgabe, in solcher Weise zu produzieren, dass die von ihnen verwendeten Produktionsfaktoren sich eigenständig reproduzieren können. Das gilt für Arbeitskräfte genauso wie z.B. für Kapital (ausreichende Abschreibungen) und Umweltressourcen.

Es kommt also nicht nur darauf an, dass die Erwerbstätigen überhaupt existenz- und teilhabesichernde Einkommen erzielen (das Grundeinkommen würde dies ja garantieren), sondern wesentlich auch darauf, wer das bezahlt. Massive Kostenentlastung kann nicht Aufgabe des Grundeinkommenssystems sein. Der Fortbestand des gesetzlichen Mindestlohns wäre erforderlich.

Zu den grundsätzlichen Fragen ebenso wie zur organisatorischen Durchführung der Mindestlohn-Regulierung gibt es zahlreiche Analysen und praktische Vorbilder in vielen Ländern Europas und in Übersee. Informationen finden sich z.B. auf der Website „Sozialpolitik aktuell in Deutschland“.

Wie können wir erreichen, dass sich auf breiter Basis – also bei der Mehrheit der Menschen – ein Gefühl der Verantwortung für die Gesellschaft im Ganzen und für benachteiligte Bürger im Besonderen entwickelt? Eine solche Haltung wäre für das BGE erforderlich. Mir scheint es ein guter Weg, diese Solidarität bei der Durchsetzung des Mindestlohns einzuüben. Der Mindestlohn leuchtet der mittel- und kleinbürgerlichen Wählermehrheit gegenwärtig wesentlich mehr ein als andere Ziele einer solidarischen Gesellschaftspolitik, z.B. der Kampf für das BGE.

Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns jetzt!

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*Der Verfasser ist Redaktionsmitglied bei www.grundeinkommen.de. Er dankt Ingmar Kumpmann für Kritik und wichtige Anregungen. Etwa verbliebene Fehler hat er alle selbst zu verantworten.

Ein Kommentar

Manuel Franzmann schrieb am 19.07.2013, 13:58 Uhr

Ein längerer Kommentar zu der aus meiner Sicht problematischen Argumentationsweise in diesem Artikel findet sich unter:

http://grundeinkommensblog.blogspot.de/2013/07/kommentar-zu-herbert-wilkens.html

Der Kommentar war für diese Kommentarspalte zu lang.

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