Europäischer Mindesteinkommensbericht stützt Forderung nach Grundeinkommen
Am 20.Oktober 2010 wurde im Europäischen Parlament der Bericht über die Bedeutung des Mindesteinkommens für die Bekämpfung der Armut und die Förderung einer integrativen Gesellschaft in Europa 2010/2039 INI beschlossen. Er liegt der Europäischen Kommission nunmehr zur Berücksichtigung im Rahmen zukünftiger Gesetzesvorhaben vor. Ein wichtiges Zeichen des Parlaments anlässlich des Europäischen Jahres im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung, aber auch eine gute Nachricht für Grundeinkommensfans!
Der Bericht der portugiesischen Europaabgeordneten Ilda Figueiredo (Fraktion GUE/NGL, Kommunistische Partei Portugals), dem mit einer Mehrheit von 437 Ja- zu 162 Nein-Stimmen zugestimmt wurde, beinhaltet zwei entscheidende Forderungen:
Zum einen soll die Kommission mit einer Initiative die Mitgliedsstaaten darin unterstützen, armutsbekämpfende und teilhabesichernde Mindesteinkommen einzuführen, wobei sowohl bewährte Verfahren zu berücksichtigen sind als auch verschiedene Modelle eines „individuellen, armutsfesten Mindesteinkommens oder Grundeinkommens“ und zwar als „Maßnahme zur Armutsprävention und zur Sicherung der sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle Bürger“ (Paragraph 34).
Zum anderen werden die EU-Kommission und die EU-Mitgliedstaaten aufgefordert „zu prüfen, wie verschiedene Modelle bedingungsloser und der Armut vorbeugender Grundeinkommen für alle zur gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Eingliederung beitragen könnten, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, dass sie nicht stigmatisierend wirken und geeignet sind, Fälle von verschleierter Armut zu vermeiden“ (Paragraph 44).
Das heißt, es gibt neben dem Aufrechterhalten des Prüfauftrages an die Kommission, der sich schon im Artikel 7 des sogenannten ‚Zimmer-Berichts’ findet, eine Forderung an die EU-Kommission, EU-Mitgliedsstaaten bei der Planung und Einführung von individuellen und armutsfesten Mindesteinkommen und/oder Grundeinkommen zu unterstützen. Zudem werden auch die Regierungen der Mitgliedsstaaten aufgefordert, Grundeinkommensmodelle zu prüfen.
Ein klarer Bezug darauf, dass Mindesteinkommen als individuelle Leistung zu gestalten sind, findet sich in den Erwägungsgründen J und X des Mindesteinkommensberichts. Zudem wird die Wichtigkeit gesellschaftlicher Teilhabe als Menschenrecht herausgehoben (vgl. dritter und vierter Anstrich zu Beginn des beschlossenen Berichts) und die damit verbundene Notwendigkeit eines angemessenen Einkommens sowie des Zugangs zu öffentlichen, qualitativ hochwertigen Infrastrukturen und Dienstleistungen betont (Erwägungsgrund O und Paragraph 18). Paragraph 35 geht sogar so weit, ein Mindesteinkommen als Grundrecht und Voraussetzung für persönliche Entfaltung und Teilhabe an demokratischen Gestaltungsprozessen zu bezeichnen. Die zur Finanzierung solcher Systeme notwendige finanzielle Umverteilung würde, so Erwägungsgrund Z und Paragraph 28, zur Bekämpfung sozialer Ungleichheiten und zur Gewährleistung von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit beitragen.
Auf die Frage, was armutsfest ist, wird klar auf eine Armutsgrenze von mindestens 60 Prozent des Median-Nettoeinkommens des jeweiligen Mitgliedsstaats verwiesen (Paragraph 15 und 29), also auf die Armutsrisikogrenze nach EU-Standard. Mitgliedsstaaten, deren Mindesteinkommenssysteme unterhalb dieser Armutsgrenze liegen, werden kritisiert und zur Korrektur ihrer Sozialsysteme ermahnt. Die Kommission soll bei ihrer Beurteilung nationaler Aktionspläne schlechte Praktiken in Mitgliedsstaaten ansprechen und Verbesserungsvorschläge unterbreiten (Paragraph 40 und 41). Außerdem wird vom Europäischen Parlament ausdrücklich die Prüfung einer Gesetzesinitiative für eine unionsweite Festsetzung von Mindestlöhnen gefordert (Paragraph 21).
Auch wird zusätzlich zur o. g. Begründung für das Grundeinkommen in Paragraph 44 noch einmal explizit auf die Bedeutung verdeckter Armut aufmerksam gemacht (Paragraph 37). Die Mitgliedsstaaten werden aufgerufen, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zu verbessern, u .a. durch eine Vereinfachung von Verfahren sowie durch die Einführung wirksamer Maßnahmen gegen die mit dem Erhalt von Mindesteinkommen verbundene Stigmatisierung und Diskriminierung. Dies ist besonders mit Blick auf die Nichtinanspruchnahme von Mindesteinkommen mit einer diskriminierenden und stigmatisierenden Bedürftigkeitsprüfung von enormer Bedeutung.
Schließlich wird auf das Verbot der Zwangsarbeit in den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) Nr. 29 und 105 (sechster Anstrich zu Beginn des Berichts) hingewiesen. Dieser Punkt ist vor dem Hintergrund eine wichtige Einlassung, dass repressive Transfersysteme – wie auch schon die erwähnte Bedürftigkeitsprüfung – im Gegensatz zu einem bedingungslosen Grundeinkommen immer verdeckte Armut erzeugen.
Fazit:
Diese nunmehr enthaltenen Passagen im EP-Mindesteinkommensbeschluss zum Grundeinkommen sind wichtige Schritte in die richtige Richtung, die nicht zuletzt dem Engagement des österreichischen und deutschen Netzwerks Grundeinkommen und den Attac-Grundeinkommens-Gruppierungen beider Länder zu verdanken sind. Beide hatten sich in einem gemeinsamen Schreiben mit Kritikpunkten und Vorschlägen an die Mitglieder des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten im Europäischen Parlament gewand. Offenbar fielen die Anmerkungen bei grundeinkommensaffinen Europaabgeordneten auf fruchtbaren Boden. Somit konnte der ursprüngliche Berichtsentwurf von Ilda Figueiredo, welcher weit hinter einige Erwartungen zurückfiel, in entscheidenden Punkten verbessert werden. Das heißt, dass die europäischen Grundeinkommensbewegungen sowohl die Europäische Kommission als auch die Regierungen der Mitgliedsstaaten mit den oben beschlossenen Forderungen politisch unter Druck setzen können.
Zielgerichtete und seriöse Lobbyarbeit lohnt sich also!
Adeline Otto ist Mitglied im SprecherInnenkreis der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und bei der Partei DIE LINKE und Mitglied der working group on Basic Income innerhalb der Partei der Europäischen Linken. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin einer Europaabgeordneten in Brüssel. Von ihr liegen mehrere Veröffentlichungen zum Thema Grundeinkommen vor. Zuletzt erschien von ihr ein Beitrag im Buch Grundeinkommen. Geschichte – Modelle – Debatten, das sie zusammen mit Ronald Blaschke und Norbert Schepers herausgab.
Ein Kommentar
Direkte Demokratie
„Europäische Bürgerinitiative“
nimmt Form an.
Bürger der Europäischen Union können bald per Unterschriftensammlung neue Gesetze verlangen. Die EU-Kommission, die Mitgliedstaaten und das Europaparlament haben sich über die Einzelheiten der sogenannten „Europäischen Bürgerinitiative“ geeinigt.
Änderungen der EU-Verträge können die Bürger nicht verlangen, nur Gesetze zu ihrer Umsetzung
Die „Europäische Bürgerinitiative“ wurde mit dem Lissabon-Vertrag eingeführt. Danach können eine Million Bürger in mindestens sieben EU-Ländern eine Initiative bei der Kommission einreichen, um eine Änderung des EU-Rechts zu fordern. Die förmlichen Beschlüsse sollen noch im Dezember in Brüssel gefasst werden, wonach sie innerhalb eines Jahres in das nationale Recht der Mitgliedstaaten zu übertragen wären. Erste Bürgerbegehren können damit voraussichtlich von 2012 an eingereicht werden.
Die Brüsseler Verhandlungen drehten sich zuletzt vor allem um die Frage, wie die bürokratischen Hürden möglichst gering gehalten werden können. So hatte die Kommission ursprünglich vorgeschlagen, die Zulässigkeit einer Initiative erst zu prüfen, wenn schon 300.000 Unterschriften gesammelt sind. Denn ein Bürgerbegehren muss sich um einen Gegenstand drehen, für den die EU überhaupt zuständig ist, und sie darf nicht gegen ihre grundlegenden Werte verstoßen.
Vielleicht erreichen wir danach mehr ?