Schäubles grobe Schätzung

Reimund Acker 08.06.2011 Druckversion

Noch hat sich nicht überall herumgesprochen, dass 1.500 Euro nicht die gottgegebene Höhe des Grundeinkommens ist, da geistert schon die nächste magische Zahl durch Medien und Grundeinkommensszene: Eine Billion Euro – das sei die Höhe der Sozialleistungen pro Jahr in Deutschland. Die Zahl stammt von Dr. Wolfgang Schäuble, der sie im Februar letzten Jahres in einem Interview für die Frankfurter Rundschau in die Welt setzte: „Dieses Land gibt einschließlich der Sozialversicherungen etwa eine Billion Euro Sozialleistungen im Jahr aus.“ Und weil Schäuble immerhin Finanzminister dieses Landes ist, sehen Teile der Grundeinkommensbewegung keinen Grund, seine Aussage nicht dankbar als Argumentationshilfe zu übernehmen. Argumentationshilfe deshalb, weil es bei 1.000 Mrd. Euro Sozialleistungen – also ca. 1.000 Euro pro Kopf und Monat – beim Grundeinkommen nicht mehr viel zu finanzieren gäbe. Zumindest wenn man davon ausgeht, dass das Grundeinkommen fast alle bisherigen Sozialleistungen ersetzen würde.

Nun gibt es allerdings ein Problem mit Schäubles Zahl: Sie steht in krassem Widerspruch zu den Angaben des vom Arbeits- und Sozialministerium jährlich veröffentlichten Sozialbudgets, in dem die Bundesregierung „die in der Bundesrepublik Deutschland erbrachten Sozialleistungen und ihre Finanzierung darstellt“ und für das Jahr 2009 mit 753,9 Mrd. Euro beziffert.

Das ist eine Viertelbillion weniger als Schäubles virulente Sozialbillion. Verfügt der Finanzminister über Informationen, von denen das Sozialministerium nichts weiß? Hat er eine kreativere Berechnungsmethode angewandt, nach der auch Bankenrettungsschirme als Sozialleistungen gelten? Oder betreibt das Finanzministerium gar eine schwarze Sozialkasse, aus der es heimlich die Hartz-IV-Bezüge aufstockt, weil es die Schande der zu niedrigen Regelsätze nicht mit ansehen kann?

Die Lösung des Rätsels ist ebenso einfach wie ernüchternd. Auf meine Nachfrage teilte mir das Büro des Ministers kürzlich mit, es habe sich bei der Aussage lediglich um eine Schätzung Schäubles gehandelt, da ihm die Zahlen des Sozialbudgets 2009 noch nicht vorgelegen hätten.

Was aber hat den Mann dazu veranlasst, diesen sensationellen Sprung des Sozialbudgets nach oben vorauszusagen, um ein ganzes Drittel oder eine Viertelbillion Euro innerhalb eines Jahres? Zumal sich die jährlichen Zuwächse bisher meist im niedrigen einstelligen Bereich bewegten (s. Grafik).

Schaeubles Schaetzung

Von dieser Viertelbillion könnte man einer Million BundesbürgerInnen ein Haus mit Grundstück schenken oder jedem vierten Menschen in Deutschland 1.000 Euro pro Monat bezahlen oder 500 Euro jedem zweiten. 20 bis 40 Millionen zusätzliche Hartz-IV-BezieherInnen? Wenn man sich vorzustellen versucht, welche nationale Großkatastrophe Schäuble für diese Explosion des Sozialbudgets erwartet haben muss, kann einem angst und bange werden.

Freilich muss man, ohne unserem Finanzminister zu nahe treten zu wollen, auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er selbst nicht an seine Sozialbillion geglaubt hat, also das harte Wort „Lüge“ zur Beurteilung seiner Behauptung verwendet werden müsste. Aber warum hätte er lügen (= bewusst die Unwahrheit sagen) sollen?

Ein näherer Blick in das besagte Interview erhellt. Auf die Frage des Reporters nach den Konsequenzen des jüngsten Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen antwortet Schäuble: „Die notwendigen Sozialleistungen dürfen die Aufnahme von Arbeit nicht unattraktiv machen. Mit anderen Worten: Das Lohnabstandsgebot muss gewahrt werden. Dieses Land gibt einschließlich der Sozialversicherungen etwa eine Billion Euro Sozialleistungen im Jahr aus. Das sind im Durchschnitt 12.500 Euro pro Kopf der Bevölkerung. Da muss man schon die Frage stellen, ob wir die Effizienz unserer Sozialleistungen nicht verbessern können.“ Es ging ihm also darum, Stimmung für möglichst niedrige Regelsätze zu machen, indem er die tatsächliche Höhe der Sozialleistungen nach oben log, oder freundlicher ausgedrückt, sich gezielt grob verschätzte. (Und nur so am Rande: Nicht zu hohe Sozialleistungen machen die Aufnahme von Arbeit unattraktiv, sondern zu niedrige Löhne und deren zu hohe Anrechnung auf das Arbeitslosengeld II.)

Na gut, werden jetzt einige GrundeinkommensfreundInnen sagen, dann drehen wir eben den Spieß um und verwenden Schäubles Billionenmär als Argument für die Finanzierbarkeit des Grundeinkommens. Aber ist das wirklich eine gute Idee? Sollen wir das Vertrauen unserer MitbürgerInnen in die Finanzierbarkeit des Grundeinkommens auf der Falschaussage eines – schon bald ehemaligen – Finanzministers aufbauen, in der Hoffnung, dass sie den Betrug nicht bemerken? Machen wir uns damit nicht zu Komplizen Schäubles, wenn auch zu einem anderen Zweck – und heiligt der das Mittel? Wahrscheinlich würden wir es Schäuble damit ermöglichen, eine zweite Fliege mit der gleichen Klappe zu schlagen, vielleicht ohne es überhaupt zu bemerken: Neben der Hartz-IV-Propaganda hätte er den GrundeinkommensgegnerInnen ein Argument sowohl gegen die Finanzierbarkeit des Grundeinkommens als auch gegen die Glaubwürdigkeit der GrundeinkommensbefürworterInnen geliefert.

Ich denke wir sollten statt dessen offensiv gegen Schäubles Täuschung vorgehen, die Bedeutung des Sozialbudgets für die Diskussion des Grundeinkommens deutlich machen und die Information über seine tatsächliche Höhe von derzeit 754 Mrd. Euro verbreiten. Das bewahrt uns vor falschen Finanzierungsberechnungen und Glaubwürdigkeitsverlust.

Höhe und Zusammensetzung des Sozialbudgets bleiben für Überlegungen zur Finanzierung des Grundeinkommens wichtig. Die verschiedenen Grundeinkommensmodelle gehen von unterschiedlichen Einsparmöglichkeiten beim Sozialbudget aus, je nachdem, welche Sozialleistungen sie beibehalten und welche sie durch das Grundeinkommen ersetzen wollen. Hierbei sind einige Grenzen zu beachten; insbesondere können nicht sämtliche Leistungen des Sozialbudgets durch das Grundeinkommen ersetzt werden. So müssen bestimmte Sonderbedarfe oder Nachteilsausgleiche z.B. für Behinderte, chronisch Kranke und Schwangere weiterhin zusätzlich zum Grundeinkommen aufgebracht werden. Die beiden größten Einzelposten des Sozialbudgets sind die Krankenversicherung mit 21,4% und die Rentenversicherung mit 31,7%.

Kranken- und Pflegeversicherung machen zusammen 24% der Sozialleistungen aus, also 181 Mrd. Euro. Dieser Anteil ist bei Finanzierungsberechnungen für das Grundeinkommen unterschiedlich zu behandeln, je nachdem ob die Finanzierung diese Versicherungen mit abdecken soll oder nicht. Bei einer Finanzierung des Grundeinkommens einschließlich der Kranken- und Pflegeversicherung kann man die 181 Mrd. Euro aus dem Sozialbudget dafür mit heranziehen. Betrachtet man jedoch eine Finanzierung des Grundeinkommens ohne Kranken- und Pflegeversicherung, so steht dieser Posten des Sozialbudgets dafür natürlich nicht zur Verfügung, weil das Geld dann ja weiterhin zur Finanzierung dieser Leistungen – zusätzlich zum Grundeinkommen – benötigt wird.

Etwas komplizierter liegt der Fall bei der Rentenversicherung. Ihr Anteil am Sozialbudget beträgt (einschließlich der Alterssicherung der Landwirte und der Versorgungswerke) 32,5% des Sozialbudgets oder 245 Mrd. Euro. Selbst wenn man unterstellt, dass Renten bis zur Höhe des Grundeinkommens durch dieses ersetzt werden (was Akzeptanzprobleme aufwerfen könnte, da die einen umsonst bekommen würden, wofür die anderen Beiträge zahlen mussten), besitzen die darüber hinaus erworbenen Rentenansprüche Eigentumscharakter und bleiben daher erhalten, müssen also für eine Übergangszeit zusätzlich zum Grundeinkommen gezahlt und finanziert werden. Von diesen 245 Mrd. Euro entfällt nach meinen Berechnungen (auf der Basis von Zahlen der Deutschen Rentenversicherung von 2006) ein Anteil von 84% oder 205,5 Mrd. Euro auf Renten bis 1.000 Euro. Der ließe sich zur Refinanzierung eines Grundeinkommens von 1.000 Euro aus dem bisherigen Sozialbudget heranziehen. Die darüber hinausgehenden Rentenansprüche belaufen sich auf ca. 40 Mrd. Euro jährlich, was einem Anteil von 5% des Sozialbudgets entspricht.

Dieser Anteil des Sozialbudgets für Rentenanteile oberhalb eines 1.000-Euro-Grundeinkommens, der für dessen Finanzierung nicht zur Verfügung steht, fällt bei einem niedrigeren Grundeinkommen entsprechend höher aus. Das macht aber nichts, denn wenn man z.B. von einem Grundeinkommen von 900 statt 1000 Euro ausgeht, erhält zwar ein Rentner mit 1.200 Euro Rentenanspruch 300 statt 200 Euro zusätzlich zu seinem Grundeinkommen – das sind 100 Euro weniger Ersparnis beim Sozialbudget -, aber gleichzeitig eben auch 100 Euro weniger Grundeinkommen, also sind 100 Euro weniger zu finanzieren. Und dazu kommen jede Menge Nicht-Rentner mit ebenfalls 100 Euro weniger Grundeinkommen, so dass die Finanzierung eines niedrigeren Grundeinkommens trotz der Bedienung darüber hinausgehender Rentenansprüche einfacher wird.

Man sieht also, dass sich die Finanzierbarkeit des Grundeinkommens unter Berücksichtigung von Einsparungen im Sozialbudget nachweisen lässt, auch ohne die unfreiwillige Hilfe eines Finanzministers.

3 Kommentare

Oliver Petry schrieb am 08.06.2011, 15:38 Uhr

Die einzige Möglichkeit die Zinslast zu senken, ist den liquiden Anteil des Budget zu senken. Das kann man durch verschiedene Methoden erreichen. Abschaffen des Bargeldes, Einsetzen von Gutscheinen als Sachleistung, Ändern des Auszahlungsmodus von monatlich zu wöchentlich, elektronische Sofortverrechnungsmöglichkeit der Umsatzsteuer etc.

Tobias schrieb am 09.06.2011, 02:21 Uhr

Man sollte vielleicht mal darüber nachdenken, dass solche Finanzierungsanalyse nicht für jeden zugänglich ist, sowohl intellekuell als auch faktenbezogen. Daher wäre es durchaus klüger, Finanzierungsmodelle sowohl bildlich als auch sprachlich zu formulieren, sie in einem Archiv zusammen führen, um selbst als Befürworter mal Argumentationsgrundlagen zu haben. Bisher habe ich selbst kein einziges Finanzierungsmodell entdeckt, wo heutige Posten aufgeschlüsselt sind und zukünftige gegenübergestellt werden.

Martin Besecke schrieb am 09.06.2011, 09:42 Uhr

Lieber Netzwerkrat,

vielen Dank für diesen sehr informativen und substantiellen Beitrag. Vielen Dank auch für den dezenten Hinweis auf eine Entwicklung, mit der ich auch schon seit einiger Zeit hadere.

Die Idee des BGE ist eine Bürgerbewegung, wo sich einige Protagonisten herausgebildet haben, die diese Idee öffentlichkeitswirksam vertreten. Seit einiger Zeit ist aber zu beobachten, dass einige dieser Protagonisten sich förmlich zu Ikonen mit allen dazugehörigen Eitelkeiten entwickeln. Ich persönlich habe das auch schon erleben dürfen.

Gleichzeitig ist zu beobachten, dass durchaus viele Befürworter eines BGE diesen \"Ikonen\" und jeder Halbinformation fast schon sektenartig hinterher\"hypen\".

Ich möchte das jetzt nicht als Vorwurf formulieren, weil ich kenne das aus meinen Erfahrungen in Bürgerbewegungen, diese Entwicklungen sind im Prinzip fast zwangsläufig und normal.

Man muss es aber rechtzeitig thematisieren und sich damit auseinandersetzen.

Es besteht ansonsten die Gefahr, dass sich diese Entwicklung verselbständigt und manifestiert, was wiederum kontaproduktiv für die Idee des BGE wäre und dadurch sogar ein Scheitern dieser Idee bedeuten kann.

Es wäre nicht die erste Bewegung, die über diese Zusammenhänge gestolpert ist.

Umso schöner finde ich es, das im Netzwerk Grundeinkommen offensichtlich ein Bewusstsein für diese Zusammenhänge vorhanden ist, dass freut mich sehr!

Herzliche Grüße

Martin Besecke

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