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Sozialpolitik ist Demokratiepolitik: Wie soziale Sicherung Wahlbeteiligung stärken kann

Die Wahlbeteiligung in Deutschland sinkt. Demokratiepolitisch besonders problematisch ist, dass sie unter erwerbslosen und einkommensschwachen Wahlberechtigten stärker abnimmt als unter sozioökonomisch besser gestellten Wähler:innen. Vor allem unter Bedingungen wirtschaftlicher Ungleichheit kann das Gefühl von Benachteiligung und Abgehängtsein das Politikvertrauen von Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status schwächen und ihnen das Gefühl geben, ihr politisches Engagement wäre ohnehin sinnlos (z.B. Schäfer & Schwander, 2019). Durch ihr Fernbleiben von der Wahlurne werden nicht nur die Präferenzen der Nichtwähler:innen politisch weniger berücksichtigt; auch sind die demokratischen Wahlergebnisse und die gewählten Instanzen nicht sozial repräsentativ (Schäfer, 2015).

Sozialpolitik ist auch Demokratiepolitik

Ein möglicher Hebel setzt bei der Sozialpolitik an – das zeigen bisher unveröffentlichte Daten des finnischen Basic Income-Experiments. Bei diesem Feldexperiment erhielten 2.000 zufällig ausgewählte finnische Arbeitsuchende über zwei Jahre statt des herkömmlichen Erwerbslosengeld eine modifizierte staatliche Transferleistung. Diese wurde in gleicher Höhe ausbezahlt (560 €), jedoch im Gegensatz zur regulären Leistung ohne Verhaltensauflagen und ohne Transferentzug. Das heißt: Die Personen erhielten über die Dauer der Studie ihr Geld uneingeschränkt weiter, unabhängig davon, ob sie Erwerbsarbeit fanden oder aufhörten, Erwerbsarbeit zu suchen.

569 Beziehende dieser modifizierten Transferleistung sowie 1.028 ebenfalls arbeitsuchende Kontrollpersonen nahmen innerhalb der letzten drei Monate des Studienzeitraums an telefonischen Interviews teil. Befragt wurden sie dabei unter anderem dazu, ob sie vorhatten, bei der nächsten Parlamentswahl wählen zu gehen, ein – bislang unbeachteter – Indikator für politische Teilhabe. In Zusammenarbeit mit der Universität Turku und der Ludwig-Maximilians-Universität München untersuchten wir als Stiftung Grundeinkommen nun den Effekt der modifizierten Transferleistung auf die Wahlbereitschaft (Hirvonen, Schäfer, & Tukiainen, 2022).

Die Schieflage angleichen – Die Re-Analyse des finnischen Basic Income-Experiments zeigt einen Weg

Weil Wahlverhalten bei vielen Menschen eine stabile Gewohnheit ist, betrachteten die Forschenden vor allem die sogenannten volatilen (Nicht-)Wähler:innen. Dies sind Personen, deren Wahlverhalten vorab als wenig stabil eingestuft wurde und die daher als mobilisierbar gelten. Unter diesen volatilen (Nicht-)Wähler:innen erhöhte die modifizierte Transferleistung die Bereitschaft, zur Wahlurne zu gehen, statistisch signifikant um 7,3 Prozentpunkte. Betrachtete man die Daten aller Teilnehmenden, also nicht allein die Subgruppe der volatilen (Nicht-)Wähler:innen, handelte es sich erwartungsgemäß lediglich um einen kleinen, statistisch nicht signifikanten Anstieg von 2,3 Prozentpunkten.

Eine Erklärung: Bei den Beziehenden der modifizierten Transferleistung stiegen Politikvertrauen, zwischenmenschliches Vertrauen und die politische Wirksamkeit – allesamt wichtige motivationale Voraussetzungen für den Gang zur Wahlurne. Und tatsächlich zeigten die Daten diesen positiven Zusammenhang der Wahlabsicht sowohl mit Vertrauen als auch mit der empfundenen politischen Wirksamkeit.

Aus den Befunden ergeben sich wichtige politische Implikationen: Angesichts aktueller Krisen und Herausforderungen müssen Sozialpolitiken auch unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten gestaltet werden. Für unsere aktuelle Grundsicherung heißt das: Eine mögliche Sanktionsfreiheit und eine geringere Transferentzugsrate gehören auf den Prüfstand.

Der englischsprachige Forschungsbericht sowie eine deutsche Zusammenfassung der Studie, der Hintergründe und Implikationen (Sozialpolitik ist Demokratiepolitik: Die Rolle der sozialen Sicherung für politische Partizipation) sind zu finden auf www.stiftung-grundeinkommen.de/forschung/ [1]

Literatur/Quellen:

Hirvonen, S., Schäfer, J., & Tukiainen, J. (2022). The effect of unconditional cash transfers on voting participation: Evidence from the Finnish basic income experiment. Veröffentlichung der Stiftung Grundeinkommen, zu finden auf www.stiftung-grundeinkommen.de [2]

Paulus, A., Oostendorp, A. & Gutzmer, J. (2022). Sozialpolitik ist Demokratiepolitik: Die Rolle der sozialen Sicherung für politische Partizipation. Veröffentlichung der Stiftung Grundeinkommen, zu finden auf www.stiftung-grundeinkommen.de [2]

Schäfer, A. (2015). Der Verlust politischer Gleichheit: warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet (Vol. 81). Campus Verlag.

Schäfer, A., & Schwander, H. (2019). ‘Don’t play if you can’t win’: Does economic inequality undermine political equality? European Political Science Review11(3), 395-413.

Zu den Autor:innen:

Mansour Aalam ist Ökonom und seit 2017 Geschäftsführer der Stiftung Grundeinkommen [3], einem bundesweit agierenden Think Tank, der evidenzbasiert die Transformation hin zu universellen Sozialsystemen begleitet und gestaltet. Mansour Aalam studierte Ökonomie und Politikwissenschaften in Freiburg, Rom und Washington. Er schloss sein Studium mit einem Master of Science in Business and Economics an der Universität Basel (Schweiz) ab.

Anna Oostendorp ist seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Stiftung Grundeinkommen. Sie studierte Psychologie in Nijmegen (Niederlande). Danach arbeitete sie als Wissenschaftlerin an der Technischen Universität München. Neben ihrer Forschung für die Stiftung Grundeinkommen promoviert sie im Themenbereich Motivation und Selbstkontrolle.

3 Comments (Open | Close)

3 Comments To "Sozialpolitik ist Demokratiepolitik: Wie soziale Sicherung Wahlbeteiligung stärken kann"

#1 Comment By Gerhard Seedorff On 10.06.22 @ 11:01

Ich gehe davon aus, dass die Stiftung Grundeinkommen so wie auch die ATTAC Initiative immer noch fordern, dass allen Menschen das Grundeinkommen in der gleichen Höhe ausgezahlt wird. Darum wird es sicherlich kein Bedingungsloses Grundeinkommen auf dieser Erde geben, weil die Menschen unterschiedlich sind und unterschiedlich hohe Grundeinkommen benötigen, die ihren Grundbedarf decken, damit sie “warm wohnen können und satt zu essen haben”. B E D I N G U N G S L O S !

#2 Comment By Sebastian On 11.06.22 @ 20:58

Mi 22.06.2022 um 18 Uhr die dazugehörige Veranstaltung “Sozialpolitik ist Demokratiepolitik – Wie soziale Sicherung politische Partizipation fördern kann” auf Youtube [4] bzgl. [5]

#3 Comment By Gerhard Seedorff On 19.06.22 @ 11:58

Die Stiftung Grundeinkommen geht scheinbar davon aus, dass eine hohe Wahlbeteiligung auf eine Zustimmung der Bürger zur repräsentativen Demokratie hindeutet, d.h. in Deutschland zur Parteien-Demokratie. Eine Untersuchung darüber, ob die Wahlbeteiligung der Bürger nicht in erster Linie auf die indirekte Werbung mit Hilfe der Medien zurück zu führen ist weil Nichtwähler, den Eindruck haben, dass sie über den Tisch gezogen werden sollen, wenn ihnen verständlich gemacht wird, welches Demokratie-Verständnis nicht nur die Parteien, die sich bei ihren Entscheidungen bekanntlich an selbst erlassene Gesetze und schwerverständliche Parteiprogramme halten, sondern auch der gewählten Kandidaten, die, wie inzwischen bekannt geworden ist, von sogenannten Küchenkabinetten geleitet werden und die Wünsche der Wähler von den gewählten Kandidaten gar nicht berücksichtigt werden können, wäre sicher hilfreich.
Oder wollen wir die Gesetzgebung weiterhin den Lobbyisten und den Medien überlassen!
Warum wurde von befürwortenden-Parlamentariern kein Gesetzentwurf für ein BGE eingebracht und die rein demokratischen Petitionen von Susanne Wiest (2010 +2021) in der parlamentarischen Bearbeitung verschludert? Vielleicht um den Bürgern und Wählern deutlich zu machen, wie eine Parteien-Demokratie in Deutschland funktioniert