Existenzminimum – so wenig wie möglich? Nein: so viel wie möglich!

Archiv 10.02.2010 Druckversion

Eine der wesentlichen gesellschaftlichen Errungenschaften (einiger Industrienationen) besteht darin, zumindest dem Anspruch nach, sicherzustellen, dass allen Mitgliedern einer Gesellschaft das Existenzminimum garantiert werden soll. Dabei kann das Wort „Existenzminimum“ auf zweierlei Weise verstanden werden. Zum einen ist ein sozialer Mindeststandard gemeint, der allen zusteht, der nicht unterschritten werden darf: das Existenzminimum ist demnach das Mindeste, das jeder und jedem zusteht. Die zweite Deutung lautet, das Existenzminimum solle so wenig wie möglich, eben minimal, sein.

Aus dieser zweiten Deutung folgt eine Diskussion über die Frage, wie wenig ein Mensch eigentlich zum Leben braucht. Wissenschaftler und Meinungsmacher entwickeln mitunter einen kuriosen Ehrgeiz, in allen Einzelheiten zu ermitteln, mit welchem geringstmöglichen Einkommen es so gerade eben noch möglich ist, ein Leben zu führen. Sie verkneifen es sich bei dieser Gelegenheit nicht, die Betroffenen mit Ratschlägen zur sparsamen Lebensführung (gesunde Ernährung mit wenig Geld; der zusätzliche Pullover, um Heizkosten zu sparen) zu behelligen und zu bevormunden. Das Ziel dieser „Wissenschaft“ ist der Nachweis, dass die Armen auch mit weniger Geld am Leben bleiben können und insofern das staatlich zu garantierende Existenzminimum noch niedriger angesetzt werden könne, als bisher vermutet werden durfte. Da ein solches physisches Existenzminimum weithin als inakzeptabel gilt, wird überwiegend ein soziokulturelles Existenzminimum gefordert, welches zusätzlich die Möglichkeit zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben enthält. Auch das Bundesverfassungsgericht folgt in seinem Regelsatz-Urteil dieser Deutung, die sich bei ihm aus der im Grundgesetz festgeschriebenen Unverletzlichkeit der Menschenwürde herleitet. Aber auch hier wird die Frage nach dem Minimum gestellt, die Frage danach, mit wie wenig man gerade noch würdig leben kann.

Deutet man hingegen das Existenzminimum nur in der ersten Weise als das Niveau, unter das niemand fallen darf, dann ist auch eine andere Debatte über die Höhe des Existenzminimums möglich: Bei der Suche nach einem alternativen Kriterium für die Höhe der Mindestsicherung treten die materiellen Möglichkeiten der Gesellschaft in den Vordergrund. Das Minimum soll so hoch sein, wie die Volkswirtschaft es nachhaltig aufbringen kann (vgl. Philippe Van Parijs „Real Freedom for All“, Kapitel 2: „The highest sustainable basic income“). An die Stelle der heute vorherrschenden „Selbstverständlichkeit“, das Existenzminimum habe so niedrig wie möglich zu sein, tritt der gegenteilige Ansatz, das Existenzminimum so hoch wie möglich anzusetzen.

Heute gilt das Leistungsprinzip (also der Markterfolg und der Zufall des eigenen Vermögens) als selbstverständlich und als natürlich. Korrigiert wird nur ausnahmsweise so weit, wie dies unbedingt nötig ist, um die Existenz jener zu sichern, die sich nicht selbst helfen können. Die Alternative wäre, die Gleichheit der Einkommen für alle oder eine bedürfnisgerechte Verteilung zum Ausgangspunkt zu nehmen, von dem nur abgewichen werden kann, insoweit es für die Aufrechterhaltung hinreichend großer Leistungsanreize erforderlich ist. Überlegungen hierzu hat Ingmar Kumpmann in seinen Beitrag „Finanzierung des bedingungslosen Grundeinkommens“ auf dieser Website dargelegt.

Klar erkennbar ist der grundlegende Unterschied, wie das gesellschaftliche Existenzminimum zu denken sei. Heute gilt als normal: so niedrig wie möglich – und wer ein höheres Niveau möchte, muss nachweisen, dass dieses moralisch geboten, z.B. überlebensnotwendig ist. In einer besseren Zukunft könnte als normal gelten: so hoch wie möglich – und jene, die eine Senkung fordern, haben den Nachweis zu führen, warum diese für die Wohlfahrt der Gesellschaft zuträglich sein sollte.

Die Argumente für ein möglichst hohes garantiertes Existenzminimum sind außerordentlich reichhaltig:

  • die Abschaffung von Not und Armut;
  • ein verbesserter allgemeiner Gesundheitszustand und eine höhere Lebenserwartung;
  • das gestärkte Selbstbewusstsein auf dem Arbeitsmarkt, das dann zu erwarten ist, wenn keine existenzielle Not mehr droht;
  • die Realität individueller Freiheitsrechte nicht nur für Privilegierte sondern allgemein;
  • gestärkte Innovationsfreude und daraus resultierend ökonomischer Erfolg;
  • ein gesellschaftlicher Zustand des Vertrauens und Zusammenhaltes als Rahmenbedingung für fairen Wettbewerb;
  • der Abbau sozialer Spannungen, die sich aus der gesellschaftlichen Polarisierung ergeben;
  • gestärkte und konjunkturstabilere Massenkaufkraft wegen der geringeren Sparneigung bei niedrigem Einkommen.

Einflussreiche Ökonomen meinen, eine möglichst intensive Armutsdrohung sei der beste Anreiz für erfolgreiches ökonomisches Handeln. Diese Behauptung ist schlecht belegt. Viel plausibler ist, dass die um sich greifende Existenzangst verantwortlich ist für den heute vorherrschenden Zustand der Einschüchterung, der inneren Lähmung und der daraus resultierenden Fesselung der Produktivkräfte.

Bei der Beantwortung der Frage, wie es zu gewährleisten sei, dass auch alle das Existenzminimum erhalten, spielt das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens eine herausragende Rolle. Hier konkretisiert sich das Existenzminimum als ein Einkommenssockel, der dauerhaft und zuverlässig allen zusteht.

Der Autor bedankt sich bei Ingmar Kumpmann für Hinweise und Anregungen.

11 Kommentare

Bernhard schrieb am 11.02.2010, 17:26 Uhr

Nicht nur der Begriff Existenzminimum ist zweideutig. Auch das Verständnis über die Funktionsweise der inneren Antriebsmechanismen der Menschen.

So verstehen einige Ökonomen unter „Anreiz schaffen“ die ständige Armutsdrohung. Das sind solche Ökonomen, die nicht wirklich im Mittelpunkt des Geschehens stehen und die mit der Welt nicht Schritt halten konnten. Sie artikulieren ihre eigenen Vorstellungen und widersprechen in elementarer Art und Weise alten Weisheiten und modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Armutsdrohung ist nur geeignet, um einen Menschen zu etwas zu zwingen, was er unter normalen Umständen nicht tun würde. Wir würden uns doch alle sehr wundern, wenn jemand in seiner Freizeit sich an ein Fließband setzen und behaupten würde, dass ihn dies sehr viel Spaß macht.

Neben der Armutsdrohung gibt es aber natürlich auch genau die gegenteilige Erkenntnis. Besonders erfolgreiche Unternehmen haben diese Auffassung längst übernommen bzw. von Anfang an berücksichtigt. Dort herrscht das Klima der wirklichen Freiheit und des wirklichen Frohsinns. Nur in so einem Klima können überhaupt Ideen entwickelt und umgesetzt werden. In diesem Fall wissen die Verantwortlichen, wie Menschen wirklich sind und dass Erfolg auch Erfolg haben muss. Erfolg drückt sich auch nicht immer in Geld oder Lob aus, sondern vor allem in persönlicher Freiheit. Das Konzept der erfolgreichen Unternehmen könnte sofort von einer Gesellschaft übernommen werden. Alles andere führt in die Fließbandarbeit. Und natürlich ist eine Gesellschaft oder Volkswirtschaft eine andere Dimension, aber die Mathematik bleibt immer gleich.

Günter Schwarz schrieb am 11.02.2010, 18:46 Uhr

Wir brauchen dringend ein Urteil des Verfassungsgerichtes über die Sanktionen, denn da wird das niedere Existenzminimum ja noch unterschritten.

andreas gurk schrieb am 16.02.2010, 13:37 Uhr

Der Staat verkommt immer mehr zu einer anonymen Verteilungsmaschine ohne \"Demokratieanschluss für alle Bürger\". Der Gedanke, dass der Staat ein Teil von uns allen ist und dass für jeden Verantwortung und Teilhabe möglich sein muss, verliert sich in Klientelpolitik, Lobbyismus und Wirtschaftsinteressen.

Det Staat, dem kein Vertrauen geschenkt wird, verhärtet sich in seinen Strukturen, verliert sich in abstrakten bürokratischen Gebilden oder in falsch verstandener wirtschaftlicher Freiheit. Einer Freiheit, die sich nur durch Geld erkaufen lässt.

Vertrauen kann man aber nur erreichen, wenn alle Menschen mit ins Boot genommen werden. In diesem Sinne ist ein BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN, dass die Möglichkeit der Teilhabe an der Gesellschaft garantiert, von großer Bedeutung. Der Bürger erhält dadurch ein Recht auf „Dasein“ ohne wenn und aber, auf freie kreative Entfaltung ohne bürokratischen „Sumpf“, auf freie Wertschätzung, für was er sein Geld ausgibt - und für was, wie und wen er arbeitet.

Die Demokratie hätte wieder etwas mehr Chancen, als solche auch gelebt zu werden.

Michael Klockmann schrieb am 24.02.2010, 11:19 Uhr

Das gehört doch mal doppelt unterstrichen: soviel wie möglich. Allerdings gefallen sich manche von uns darin, wortradikal \"viel, mehr, am meisten\" zu intonieren und dabei in ihrem Eifer gleich mehrfach das \"wie möglich\" zu überrollen. Wir sollten uns so langsam auf eine klug gewählte Höhe \"einschießen\", nur, wir entscheiden nicht, wo denn das soziokulturelle Existenzminimum liegt.

\"First, it must be pegged to the median income of society\" - Es muß, da hatte der gute alte Martin Luther King völlig recht, an die tatsächlichen materiellen Verhältnisse gekoppelt sein. Wohlsituierte Geizkragen neigen bei der Definition der Armutsgrenze eher zu Hälfte des Durchschnitts, ich eher zu zwei Drittel, damit landen wir also bei 750-950€ - zu heutigen Preisen, versteht sich. Allerdings, King war anscheinend kein Statistiker, denn bei einer sehr ungleichen Verteilung des Wohlstands würde ich lieber nicht vom Median ausgehen wollen sondern vom simplen Durchschnitt. Also: 2/3 von 1423€ (Pro-Kopf-Konsum in 2008) sind, aufgerundet, 950€. Drüber wird\'s komfortabler, drunter durchsetzbarer. Drum tendier ich dazu, zu sagen: lieber 800 Spatzen auf der Hand als 1000 Tauben auf dem Dach. Aber nach oben und unten hat das Ganze auch so seine Grenzen: Unter 700€ wird\'s obszön, von 1200€ bis 1423€ geht\'s in Richtung kommunistische Gesellschaft. Von mir aus gern, aber hält das hier jemand für eine politische Option?

Claus schrieb am 26.02.2010, 07:53 Uhr

Meine Erfahrung mit Leuten in der Erwachsenenbildung und auch die Erfahrung von Sozialpädagogen, die ich gut kenne, ist, dass viele Leute, die ALG 2 beziehen, schon mit dem bisschen Geld, das sie \'auf die Hand\' bekommen, nichts Vernünftiges anzufangen wissen. Es wird z. B. in Szene-Veranstaltungen immer wieder als böse Unterstellung angesehen, ist aber meines Erachtens einfach Fakt: Das Geld ginge in hohem Maße für Alkohol und Videos drauf. Man kann nun sagen, man - beispielsweise schon gar nicht die Agentur f. Arbeit - habe niemanden zu erziehen. Doch ich sehe auch nicht ein, diese Bedürfnisse staatlich zu fördern.

Victor-Philipp Busch schrieb am 27.02.2010, 17:15 Uhr

Man wird niemals Not und Armut bekämpfen können. Einerseits sind die Biographien zu unterschiedlich, um Not vermeiden zu können. Andererseits ist Armut in Deutschland an dem Durchschnitt des Einkommens aller Bürger gekoppelt, spiegelt also nicht wirklich existentiell bedrohliche Armut wieder.

Das BGE ist die Basis das aktuelle System transparenter und kostengünstiger zu gestalten und verschiedene soziale Probleme aufzugreifen (u.a. Rente und Geburtenrate). Auch sollen den Betroffenen mehr Unabhängigkeit und damit Selbstbewusstsein auf dem Arbeitsmarkt verschafft werden. Es kann und darf aber nicht das klassische Arbeitsmodell ersetzen, andernfalls bricht es mit dem Staat in sich zusammen. Westerwelle hat hier recht: Es muss die Leistung, die verteilt wird, erwirtschaftet werden. Eine Schieflage kann sich der Staat in diesem Punkt nicht leisten. Der Staat sollte aber liberaler mit den Biographien der Menschen sein: Kein Fordern von Arbeitsleistung, sondern zur Arbeit motivieren. Keine Vorschriften zur Lebensführung (z.B. hinsichtlich der Wohnungsgröße, Lebenspartnerschaften,...) erlassen, sondern eine menschenwürdige Existenz ermöglichen.

Karsten Wagner schrieb am 04.03.2010, 15:37 Uhr

Leute, die nur vom BGE leben, werden immer \"arm\" sein. Das folgt trivial aus der Defintion des BGE:

Da ja jeder mindestens ein Einkommen in Höhe des BGE hat, einige aber mehr, liegen die, die nur das BGE bekommen, ja immer unter dem Durchschnittseinkommen. Finanziert man das BGE primär durch Konsumsteuern müssen die sogar deutlich unter dem Durchschnitt liegen, da die Konsumsteuer ja merklich unter 100% liegen muß.

Daher sollte man sich wirklich mal Gedanken machen, eine sinnvolle \"Armutsgrenze\" zu definieren und (nicht) ... \"Armut\" am Durchschnitts/Median-Einkommen der Bevölkerung ... definieren ....

Sven Eweleit schrieb am 10.03.2010, 15:30 Uhr

Da in diesem Zusammenhang immer wieder die Höhe eines Einkommens debattiert wird, hier ein link: http://www.spektrum.de/artikel/947202. Der vollständige Artikel ist kostenlos auf der Seite zu beziehen. Warum sollten die Menschen also mit Unglück gestraft werden?

AgneS schrieb am 01.04.2010, 08:26 Uhr

Auch die relative Armut lässt sich (zumindest mal theoretisch) durchaus mit entsprechend hohem Niveau des BGE beseitigen.

(Link: http://de.wikipedia.org/wiki/Relative_Armut)

Dazu muss nur das BGE mindestens 50% oder 60% des durchschnittlichen gesamten Einkommens betragen, denn so ist die relative Armut meist definiert.

Also würde ca. die Hälfte des BSP für das BGE ausgegeben (Armutsgrenze definiert bei 50% des arithmetischen Mittels des Einkommens) und somit würde bei Finanzierung durch Konsumsteuer auch nur ca. 50% des Preises der Waren für die Finanzierung des BGE nötig sein.

Wolfgang Schlenzig schrieb am 20.04.2010, 11:32 Uhr

Robert hat mit seinem Ansinnen völlig Recht. Aber das bedarf einer anderen Gesellschaftsordnung, nicht des Kapitalismus. Schon in seinem Vortrag \"Lohn, Preis und Profit\" (I. Internationale, Juni 1865) macht Karl Marx deutlich, dass der Unternehmer genau aufpasst, dass er nicht viel mehr an den Arbeiter bezahlt, als dieser für die Reproduktion seiner Arbeitskraft braucht und vielleicht noch ein Quentchen drauf über das nötige Brot, nämlich für Spiele.

Und aktuell jetzt wird in Ämtern und Unternehmen wieder gerechnet, ob es nicht gar unter weltweiten Konkurrenzgesichtspunkten viel zu viel ist, was der deutsche Arbeiter und Angestellte bekommt, ob seine alten Ansprüche aus Wirtschaftswunderzeiten nicht schon erloschen sind. Was Robert will, bedarf neuen Denkens und das bedarf anderer Mehrheiten in der politischen Willensbildung.

Martina Wagner schrieb am 04.05.2010, 09:07 Uhr

die jetzige Form der \"Armutsverwaltung\" und die damit verbundene Stigmatisierung entsteht aus der Notwendigkeit einen Teil der Gesellschaft zum Sündenbock zu machen. Damit macht es sich der übrige Teil der Gesellschaft leicht. Das muss unterbunden werden.

Zunehmend sind Stimmen aus allen Richtungen zu hören, die der Vernunft angehören.

Es möge gelingen.

Einen Kommentar schreiben

Erforderliche Felder sind mit * markiert.
Bitte beachten Sie die Regeln für die Veröffentlichung von Kommentaren.