Joseph Charlier: Regelmäßige Zahlung einer Territorialdividende an alle Bürgerinnen und Bürger
Der Belgier Joseph Charlier (1816 – 1896) entwickelte in „Solution du problème social ou constitution humanitaire, basée sur la loi naturelle et précédée de l’exposé des motifs “ (1848, „Lösung des sozialen Problems oder menschengerechte Verfassung, auf das Naturrecht gestützt und eingeleitet von einer ausführlichen Begründung“) die Idee eines „minimum garanti“ („garantiertes Minimum“). In „La Question sociale résolue, précédée du testament philosophique d’un penseur“ (1894, „Die gelöste soziale Frage, mit dem philosophischen Testament eines Denkers als Vorwort“) arbeitet er die Idee weiter aus, zum Teil auch um, und nennt sie „dividende territoriale“ (Territorial- oder auch Bodendividende, vgl. Vanderborght/Van Parijs).
Mit dem naturrechtlichen Argument, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft die natürlichen Ressourcen des Nationalstaates gehören (natürliches Erbe an Boden, Sonnenkraft, Luft, Wasser), schlug er eine vierteljährliche (1848) bzw. monatliche (1894) bedingungslose monetäre Auszahlung an alle Staatsbürgerinnen und -bürger des jeweiligen Landes vor: „Es wird jedem Einzelnen […] in Bargeld gezahlt werden […].“(1848 [1]) Ausländer können ebenfalls diese Zahlung erhalten, wenn sie eingebürgert worden sind, oder Abkommen bezüglich der Gegenseitigkeit von bedingungslosen Zahlungen an die jeweiligen Ausländer bestehen, und unter der Bedingung, dass die Kinder der Ausländer Staatsbürger werden wollen. Die Geldleistung soll die lebenswichtigen Bedürfnisse („besoins naturels et vitaux“) jedes Mitglieds der Gesellschaft absichern: („[…] um jedem Mitglied der Gesellschaft, ohne Unterschied des Alters oder Geschlecht, ein Minimum für die Befriedigung seiner absoluten Bedürfnisse zu garantieren“, 1848 [2]). Auf die darüber hinausgehende Befriedigung „erworbener“ Bedürfnisse bestehe kein Rechtsanspruch, da die zu deren Befriedigung produzierten Güter nicht wie die natürlichen Ressourcen ein allen gehörendes Erbe darstellen. [3] Die Höhe des bedingungslosen Transfers sollte jährlich durch Repräsentanten der jeweiligen Nation im Parlament neu bestimmt werden. Finanziert werden sollte es durch die sozialisierten Miet- bzw. Pachteinnahmen aus der Nutzung der natürlichen Ressourcen. Die Mieten bzw. Pachten bestimmen sich gemäß dem Marktwert der natürlichen Ressourcen. Charlier berechnete deren Marktwert im Gegensatz dazu aus dem durch Arbeit verbesserten Land inkl. der Gebäude, nicht nur aus deren Marktwert als unbearbeitete Naturressource.
Verstaatlichung des Privateigentums an Immobilien und Entschädigung
Charlier plädiert in längerfristiger Perspektive für eine Verstaatlichung des Landes und der anderen natürlichen Ressourcen. In einer Übergangsregelung sollten Privateigentümer jährlich eine Kompensationszahlung erhalten, die aus den entgangenen Miet- bzw. Pachteinnahmen in Abhängigkeit vom eigenen Reichtum und der Anzahl der Weitergabe des Landbesitzes zwischen den Generationen zu berechnen wären. Das heißt, mit den sozialisierten Einnahmen aus der Vermietung oder Verpachtung des Landes hätten für eine Übergangszeit die bedingungslose Transferleistung an alle und die Kompensationszahlungen finanziert werden müssen. Daher hätte die bedingungslose Zahlung anfänglich noch gering sein können. Bei fortschreitender Verringerung bis hin zur Aussetzung der Kompensationszahlungen wegen zahlreicher Vererbung und bei weltweiter Ausweitung dieses Systems wäre aber eine angemessene Höhe für die Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse aller möglich.
Der faire Anteil am gemeinsamen Natureigentum
Für Joseph Charlier war die humanitäre Verfassung der Gesellschaft eine „mathematische“, „materielle“ Lösung des Problems eines Eigentumsanspruchs aller Menschen auf die gemeinsamen Naturressourcen in einer zivilisierten Welt, hergestellt durch die Verstaatlichung des Immobilienbesitzes, die sozialisierten Einnahmen durch Vermietung bzw. Verpachtung dieses Besitzes und das Recht auf eine bedingungslose Transferleistung. Dies alles sollte zugleich eine Lösung der Existenzprobleme der enteigneten Klasse der vormaligen Landbesitzer darstellen, im Gegensatz zu einer entschädigungslosen und gewaltsamen Lösung durch einen politischen Aufstand. Ein Recht auf Arbeit, eine Variante der Lösung im Sinne der enteigneten Klasse (vgl. Fourier) lehnte er ab, weil es eine zu starke Ausweitung der staatlichen Kontrolle bedeuten würde. Die andere Variante, das Recht auf eine Sozialunterstützung für Arme (z. B. in Form einer Grund-bzw. Mindestsicherung) lehnte er ebenfalls ab, weil diese nur das Symptom, nicht aber die Ursache des Problems abschaffen könne.
Bedingungslose Geldleistung auch nur als partielles Grundeinkommen möglich
Charlier war der Auffassung, dass das unveräußerliche, persönliche Recht auf ein bedingungsloses Minimum religiöse Rivalitäten, Räuberei und Bettelei, Rechtstreitigkeiten verringern sowie die Vorherrschaft des Kapitals über die Lohnarbeit abschaffen würde. Dem Vorwurf der Begünstigung von Faulheit, weil Arbeit nicht mehr lebensnotwendig sei, begegnete Charlier mit dem Argument, dass die nicht Arbeitenden sich mit jenem Anteil zufrieden geben müssten, welchen die Natur zur Verfügung stelle, ohne dabei die Rechte der Anderen zu verletzen [4]: „Pech für die Müßiggänger: die müssen sich mit dem Nötigsten zufrieden geben. Die Pflicht der Gesellschaft geht nicht darüber hinaus: jedem Einzelnen seinen fairen Anteil am Genuss der Elemente sicherzustellen, die die Natur ihm zur Verfügung gestellt hat, ohne widerrechtliche Inbesitznahme durch einige zu Lasten anderer.“ (1894 [5]) Auch diese Erklärung zeigt, dass die Armutsbekämpfung bzw. die Sicherstellung der Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe nicht die grundlegende Funktion der bedingungslosen Geldleistung ist, sondern lediglich die Herstellung der Gleichheit und Gerechtigkeit in Bezug auf den individuellen Anteil an den gemeinsamen natürlichen Ressourcen. Es kann sich also durchaus tatsächlich nur um ein partielles Grundeinkommen handeln. Die Höhe der Transferleistung ist für Charlier eine mathematische Ableitung von den Einnahmen aus wie auch immer festgelegten Pachten und Mieten der wie auch immer bewerteten Immobilien. Charlier schlug neben dem (partiellen) Grundeinkommen die Erfüllung weiterer gesellschaftlicher Verpflichtungen gegenüber bestimmten Personengruppen vor: das Recht auf Bildung für alle Kinder sowie für Alte und Gebrechliche das Recht auf spezielle Versorgung.
[1] „Il sera payé à chaque individu […] en espèces […].“
[2] „[…] garantir à chaque membre de la société, sans distinction d’âge ni de sexes, un minimum pour la substantation de ses besoins absolus.“
[3] Ein Argument, das Linkslibertäre bzw. libertäre Egalitaristen immer wieder scheuen lässt, aus angeblich eigener Arbeit mit angeblich eigenen Produktionsmitteln erworbene private (Eigentums-)Ansprüche zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben inkl. eines Grundeinkommens heranzuziehen, vgl. Vanderborght/Van Parijs.
[4] Vgl. Endnote 3.
[5] „Tant pis pour les paresseux: ceux-là resteront réduits à la portion congrue. Le devoir de la société ne va pas au delà: assurer à chacun sa juste participation à la jouissance des éléments que la nature a mis à son service, sans usurpation des uns au préjudice des autres.“
Literatur:
John Cunliffe/Guido Erreygers, The Enigmatic Legacy of Charles Fourier: Joseph Charlier and Basic lncome, History of Political Economy, Volume 33, Number 3, Durham 2001, S. 459-484 (Übersetzung von Ronald Blaschke), http://wrap.warwick.ac.uk/1003/1/WRAP_Cunliffe_Enigmatic.pdf
Yannick Vanderborght/Philippe Van Parijs, Ein Grundeinkommen für alle? Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags, Frankfurt/Main 2005, S. 24 f., 87 ff.
2 Kommentare
Jeder Deutsche Staatsbürger hat per Geburt ein steuerfreies Nutzungsrecht von ca. 4000 qm deutschen Staatsgebietes. Wer mehr Gebiet nutzt muss Grundsteuer als Pacht zahlen. Die Gesamtheit der Grundsteuer wird ausschließlich für ein Grundeinkommen in Höhe des Existenzminimums (Hartz 4 o.ä.)jedem Staatsbürger gutgeschrieben. Ein landloser Nichtstuer kann es ausbezahlt bekommen. Einem wertschöpfend arbeitenden Staatsbürger wird es als steuerlicher Freibetrag gewährt. So einfach kann es heute schon definiert und begründet werden, weil die Bürokratie dafür schon existiert. Dabei ist die Menschenwürde gewahrt und der Almosengedanke reicher Raubritternachkommen beseitigt.
Der Kommentar von Horst Sönksen scheint dem \"wertschöpfend arbeitenden Staatsbürger\" nur den \"landlosen Nichtstuer\" gegenüberzustellen. Wobei ersterer sich über Erwerbsarbeit definiert wird.
Ist das nicht etwas abseitig? Dass sogar hier Kommentare veröffentlicht werden, in denen nützliche Arbeit immer Erwerbsarbeit ist und nicht erwerbsförmige Arbeit als \"Nichtstun\" dargestellt wird?
[Anm. d. Red.: Wir veröffentlichen auch Meinungen, die wir nicht teilen.]