Weg mit dem „offenen Strafvollzug Hartz IV“ – Novum im Deutschen Bundestag!

Ronald Blaschke 13.04.2011 Druckversion

Zwei Anträge liegen am 06. Juni 2011, 14.00 bis 15.30 Uhr, in einer öffentlichen Anhörung dem Ausschuss für Arbeit und Soziales im Deutschen Bundestag zur Behandlung vor: ein Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen und ein Antrag der Fraktion DIE LINKE.

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen (BT-Drs. 17/3207) fordert bei Hartz IV (SGB II) eine andere Praxis der Vermittlung in Arbeit oder in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. So sollen z. B. Wünsche und Vorschläge der Grundsicherungsbeziehenden berücksichtigt werden. Diese sollen darüber hinaus zwischen verschiedenen Arbeitsangeboten wählen dürfen. Auch soll bürgerschaftliches Engagement als Gegenleistung für die Grundsicherung gelten können. So lange diese Reformen nicht umgesetzt sind, soll die Sanktionsmöglichkeit (Leistungskürzung z. B. nach § 31 SGB II) ausgesetzt werden. Wenn diese Reformen umgesetzt sind, wird die Grundsicherung – z. B. bei Ablehnung einer zumutbaren Arbeit – wieder sanktionsfähig. Die Regeln für die Sanktionen sollen allerdings geändert werden. Nach Antragstext soll durch eine Sanktion der Grundbedarf der betroffenen Person für gesellschaftliche Teilhabe nicht angetastet werden. Hier enthält der Antrag einen Widerspruch in sich, denn die Grundsicherung sichert definitionsgemäß nur den grundrechtlich gebotenen Bedarf für Existenz und Teilhabe ab (vgl. Blaschke 2010). Jede Sanktion bzw. Leistungskürzung lässt Betroffene daher unter das grundrechtlich garantierte Leistungsniveau fallen. Konkrete Angaben über die Höhe der möglichen Sanktionen werden im Antrag nicht gemacht.

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen lehnt sich zwar mit der Forderung nach einer Aussetzung der Sanktionsmöglichkeiten an die Forderung des Bündnisses für ein Sanktionsmoratorium an, fällt aber hinter diese zurück. Das Bündnis fordert eine Aussetzung, um die gegenwärtigen Sanktionsregelungen „grundlegend zu überdenken“, was die vollständige Abschaffung der Sanktionen ausdrücklich einschließt. Es heißt dazu im Aufruf des Bündnisses: „Die einen können sich bei bestimmten Verstößen Sanktionen vorstellen. Die anderen halten Sanktionen, mit denen eine Leistung gekürzt wird, die die Existenz und gesellschaftliche Mindestteilhabe sichern soll, in jedem Falle für eine Grundrechtsverletzung. Ethisch und sozialpolitisch lasse sich nicht rechtfertigen, dass eine Gesellschaft, erst recht eine reiche wie die der Bundesrepublik Deutschland, Menschen das vorenthält, was sie zu einem menschenwürdigen Leben benötigen.“

Der Antrag der Fraktion DIE LINKE (BT-Drs. 17/5174), der in der öffentlichen Anhörung am 06. Juni 2011 zur Diskussion steht, fordert: Alle Sanktionen und Leistungseinschränkungen abschaffen! Damit ist die vollkommene Abschaffung aller Paragrafen sowohl im SGB II als auch im SGB XII gemeint, mit denen – mit welchem „Nichtwohlverhalten“ des Betroffenen auch immer begründet – der oder dem Leistungsberechtigten die Grundsicherung durch Sanktionen bzw. Leistungseinschränkungen gekürzt werden kann. Noch mehr: „Die Grundsätze des Forderns rechtfertigen keinerlei Versagen der Leistungsberechtigung bzw. der Leistung zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums. Diesem Grundsatz entgegenstehende Regelungen werden aufgehoben.“ Diese Forderung der LINKEN zielt nicht nur auf die Abschaffung der Sanktionsparagrafen 31 und 32 im SGB II, sondern z. B. auch auf den Paragrafen 2 des SGB II, der eine Leistungsberechtigung von einer prinzipiellen Arbeitsbereitschaft abhängig macht. Es heißt dort: „Erwerbsfähige Leistungsberechtigte müssen ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts […] einsetzen.“ Diese dem „Grundsatz des Forderns“ in Paragrafen 2 des SGB II entsprechende grundsätzlich geforderte Bereitschaft zur Erwerbsarbeit soll als Zugangsvoraussetzung zu einer Grundsicherung nach dem Willen der Fraktion DIE LINKE also auch abgeschafft werden – jeglicher Zwang zur Gegenleistung (Mitwirkungspflicht bei der Eingliederung in Arbeit, Abschluss von Eingliederungsvereinbarungen, Annahme zumutbarer Arbeitsgelegenheiten), die im Paragrafen 2 SGB II genannt werden, ebenfalls.

Der Antrag der Fraktion DIE LINKE dürfte ein Novum im Deutschen Bundestag sein, ebenso, dass ein solcher Antrag einer Fraktion im Deutschen Bundestag in einer öffentlichen Anhörung behandelt wird: Noch nie in der Geschichte des Deutschen Bundestages wurde ein Antrag eingebracht, der in seiner Umsetzung das Menschen- und Grundrecht auf eine grundlegende Existenz- und Teilhabesicherung „ohne Zwang zur Arbeit oder anderen Gegenleistung“ (vgl. Statuten des Netzwerks Grundeinkommen) einlösen würde. Dieses Recht hatte der Demokrat, Humanist und Sozialist Erich Fromm als „ein tief in der religiösen und humanistischen Tradition des Westens verwurzeltes Prinzip“ beschrieben: nämlich als das Prinzip, „dass der Mensch unter allen Umständen das Recht hat zu leben. Dieses Recht auf Leben, Nahrung und Unterkunft, auf medizinische Versorgung, Bildung usw. ist ein dem Menschen angeborenes Recht, das unter keinen Umständen eingeschränkt werden darf, nicht einmal im Hinblick darauf, ob der Betreffende für die Gesellschaft ‘von Nutzen ist’.“ (vgl. Fromm 1966) Dieses Prinzip ist auch geltendes Menschenrecht, z. B. in Gestalt des Verbots von Zwangsarbeit, wie in einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung nachgewiesen worden ist: „Auf der Ebene des Völkerrechts erfüllen die Sanktionen des § 31 SGB II […] das in Art. 1 Abs. 2 des Übereinkommens Nr. 29 aufgeführte Kriterium der ‘Androhung irgendeiner Strafe’.“ Artikel 1 Absatz 2 des erwähnten Übereinkommens über Zwangs- oder Pflichtarbeit der International Labour Organisation (ILO, 1930) lautet: „Als ‘Zwangs- oder Pflichtarbeit’ gilt jede Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgend einer Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.“

Die Abschaffung des Paragrafen 31 SGB II steht im Mittelpunkt der politischen Bestrebungen, Sanktionen bzw. Leistungseinschränkungen abzuschaffen. Die entsprechende Möglichkeit der Unterzeichnung einer Petition findet sich unter www.sanktionen-weg.de. Die Petition wird eingereicht, sobald die nötigen 50.000 Unterschriften für eine öffentliche Anhörung im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zusammengekommen sind.

Wer die denkwürdige Anhörung am 06. Juni 2011 direkt verfolgen will, kann sich über das zuständige Sekretariat des Ausschusses für Arbeit und Soziales anmelden. Die Reden (Video und Texte) zur 1. Lesung des Antrags der Fraktion DIE LINKE finden sich auf der Website von Katja Kipping.

Eine E-Mail an alle Abgeordneten und besonders an die Mitglieder des Ausschusses für Arbeit und Soziales mit der Forderung „Sanktionen weg! – Jetzt!“ und mit der Aufforderung, den Antrag der Fraktion DIE LINKE bzw. die Abschaffung aller Sanktionen und Leistungseinschränkungen zu unterstützen, würde den notwendigen politischen Druck erzeugen – gegen Hartz IV, den „offenen Strafvollzug“! Natürlich kann man sich in der Mail auch für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens aussprechen – also als weiteren Schritt auch für die Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfungen einsetzen.

Viel Material und weitere Informationen zum Zwang zur Arbeit und zu Sanktionen finden sich auf der oben genannten Petitionsseite und bei Ronald Blaschke (dort ab Seite 213). Das Material und die Infos sind auch gut geeignet, um am 1. Mai 2011 für das Verbot der Zwangsarbeit und für sanktionsfreie Transfersysteme gemeinsam mit GewerkschafterInnen und anderen zu streiten! Also: Heraus zum 1. Mai für das Recht auf eine Existenz- und Teilhabesicherung ohne Zwang zur Arbeit oder andere Gegenleistung!

Ein Kommentar

XY schrieb am 13.05.2011, 05:59 Uhr

Danke.

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