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Ausgewählte Texte von VordenkerInnen des Grundeinkommens versammelt in einem Buch

Das von Philip Kovce und Birger P.-Priddat herausgegebene Buch „Bedingungsloses Grundeinkommen. Grundlagentexte“ [1] füllt eine Lücke auf dem Buchmarkt zum Grundeinkommen. Dieses Buch versammelt eine Auswahl an Texten und Textauszügen aus sechs Jahrhunderten, geschrieben von tatsächlichen und vermeintlichen VordenkerInnen des Grundeinkommens. Dabei handelt es sich um bekannte und weniger bekannte Texte. Einige wurden erstmalig ins Deutsche übersetzt. Interessierte müssen sich diese also nicht mehr mühsam in Bibliotheken besorgen oder selbst übersetzen. Hilfreich sind auch die Fußnoten der Herausgeber, in denen sie Hintergrundinformationen beisteuern und bestimmte Textpassagen erläutern. Die vielen Hinweise auf Literatur zum Grundeinkommen motivieren zur Weiterbeschäftigung mit dem Thema. Das Buch von Philip Kovce und Birger P. Priddat ist daher sehr zu empfehlen.

Über die Auswahl der Texte lässt sich streiten. Einerseits muss man bedenken, dass die Auswahl, die die Herausgeber getroffen haben, natürlich viele andere Texte aus Begrenzungsgründen unberücksichtigt lassen muss. Auf der anderen Seite ist es fragwürdig, warum ein Auszug aus Thomas Morus‘ „Utopia“ abgedruckt wurde. Denn in „Utopia“ werden Vorstellungen geäußert, die keineswegs Vorläufer der Idee des Grundeinkommens sind, sondern Vorläufer der heutigen politischen Ökonomie der Vollbeschäftigung bzw. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Eine Wirtschafts- oder Arbeitsbeschaffungspolitik, die Verarmten die Möglichkeit eröffnen soll, sich den Lebensunterhalt zu erarbeiten bzw. zu verdienen, entspricht der Geisteshaltung des sogenannten „solidarischen Grundeinkommens“, das jüngst in Berlin anlief. In anderen Passagen in „Utopia“ ist von Arbeitshäusern als Bestrafungsinstitution für Arme, die Diebstahl begehen, auch von einer allgemeinen Arbeitspflicht die Rede (näheres dazu hier [2]).
Eine ähnliche Kritik trifft auch den Textauszug von Josef Popper-Lynkeus. Er propagiert eine allgemeine Nährpflicht des Staates. Der soll allen Staatsangehörigen das für das Leben notwendige Minimum „ausnahms- und bedingungslos“ (Popper-Lynkeus 1912: 333, Popper-Lynkeus 1923: 133) sichern, in natura per Bezugscheine. Aber zugleich schreibt Popper-Lynkeus zum Minimum: „wir lassen es durch ALLE produzieren und verteilen es auch an ALLE.“ (Popper-Lynkeus 1912: 87, Popper-Lynkeus 1923: 75). Jede und jeder Diensttaugliche muss jahrelang in einer „Nährarmee“ Arbeitsdienst leisten, um das lebensnotwendige Minimum für sich und für die anderen zu erarbeiten (vgl. Popper-Lynkeus 1912: 333, Popper-Lynkeus 1923: 133). Diesen Arbeitsdienst bezeichnet Popper-Lynkeus als „Zwangsdienst“ (vgl. Popper-Lynkeus 1912: 357, Popper-Lynkeus 1923: 158). Schon wegen dieser Passagen wäre Vorsicht geboten. In der zweiten Auflage seines Buches zur Nährpflicht des Staates wird Popper-Lynkeus in einer anderen Passage noch deutlicher (diese Passage fehlt in der ersten Auflage des Textes, den Kovce und Priddat auszugsweise wiedergeben): „An dieser Stelle sei ausdrücklich vermerkt, daß gegenüber Jenen, die […] in der Nährarmee nicht arbeiten wollen, solange als möglich nur mit moralischen Mitteln vorgegangen werden soll und nur im äußersten Fall ihnen Minimumartikel vorenthalten werden sollen. Und wenn es z. B. sehr reichen Leuten möglich sein sollte, sich Surrogate des Minimums zu verschaffen, so muß man sie direkt internieren.“ (Popper-Lynkeus 1923: 157) Mögliche Vorenthaltung des Minimums bzw. Internierung bei der Beschaffung des Minimums am Arbeitsdienst und an der staatlichen Minimum-Institution vorbei – mit staatlicher Gewalt durchgesetzter Arbeitszwang ist die Kehrseite der staatlichen Nährpflicht bei Popper-Lynkeus.

Nicht nur wegen dieser beiden Beispiele hätten sich aus meiner Sicht andere Texte besser als Grundlagentext geeignet, da sie tatsächlich die Grundidee der bedingungslosen Existenz- und Teilhabesicherung diskutieren bzw. vorwegnehmen.

Philip Kovce und Birger P. Priddat stellen der Textauswahl eine Einleitung voran, in der sie aus ihrer Sicht den aktuellen Grundeinkommensdiskurs ordnen, in die Geschichte des Grundeinkommens einführen* und die 24 Texte kurz zusammenfassen. Beide haben dabei gar nicht erst den Versuch unternommen, die Texte umfassend zu kommentieren. Das ist auch gut so. Denn eine Textsammlung ist weitgehend kontextblind – wie es die Herausgeber selber betonen. Eine solche Sammlung blendet nämlich die biografischen und historischen Zusammenhänge aus, in denen die Texte entstanden sind. Ohne diese zu berücksichtigen und zu benennen, können die Texte auch nicht zufriedenstellend kommentiert werden. Dafür wären wiederum weitere Forschungen zur Ideengeschichte des Grundeinkommens erforderlich, in denen auch zu klären ist, ob die vermeintlichen Vordenker auch wirklich Vordenker des Grundeinkommens sind. Vordenker einer Beschäftigungspolitik für Arme oder eines ökonomischen Produktions- und Distributionssystems, das auf Arbeitszwang oder auf einer allgemeinen Arbeitspflicht basiert, sind keine Vordenker einer Idee der bedingungslosen Existenz- und Teilhabesicherung. Es gibt eben sehr unterschiedliche Denktraditionen, wie die Existenz- und Teilhabesicherung organisiert werden soll. Diese sind deutlich zu benennen und nicht zu vermischen.

Ein methodischer Leitfaden könnte die Unterscheidung verschiedener Ideen dienen, wie zum Beispiel eine religiös motivierte Armenunterstützung, eine säkulare, öffentlich-institutionell geprägte Armenfürsorge bzw. -versorgung inkl. Arbeitszwang oder eine universalistische, und damit bedingungslose Form der Existenz- und Teilhabesicherung. Überschneidungen und Mischformen sind natürlich zu berücksichtigen – die gab es in der Geschichte der Idee, die gibt es heute. Aber sie sind als solche kenntlich zu machen, und nicht in den einen oder anderen Topf zu werfen.

Für die Darstellung der Ideengeschichte des Grundeinkommens ist es ebenso unerlässlich, die mitunter vollkommen verschiedenen politischen Intentionen, die mit konkreten Ideen zum Grundeinkommen verbunden wurden, klar und deutlich herauszuarbeiten. Ferner sollte auch verdeutlicht werden, welche politischen Veränderungen der jeweilige Autor neben dem Grundeinkommen forderte, sei es nun implizit oder explizit.

All diese Überlegungen zur Ideengeschichte des Grundeinkommens dienen nicht nur der historischen Korrektheit um ihrer selbst willen. Vielmehr sind sie ausgesprochen hilfreich, um der grassierenden – unbeabsichtigten oder beabsichtigten – Beliebigkeit und Stiftung von Verwirrung entgegenzuwirken, die die öffentlichen Debatten über politische Innovationen im Allgemeinen und das Grundeinkommen im Besonderen kennzeichnen. Der genaue Blick zurück schärft auch den Blick nach vorn. Der ungenaue Blick zurück macht das Visionäre eher schwammig, unscharf und anfällig für Fehlinterpretationen.

Und abschließend zu diesem Thema: Wir haben viele Texte europäischer und nordamerikanischer Vordenker des Grundeinkommens vorliegen. Historische Texte dazu aus Afrika, Asien oder Lateinamerika sind nicht bekannt. Da sind, so vermute ich, ist noch viel kulturelle Schätze zu heben.

Philip Kovce und Birger P. Priddat hatten nicht die Absicht, eine Geschichte der Idee des Grundeinkommens zu schreiben. Ihr Sammelband wird aber zweifellos die öffentliche und wissenschaftliche Debatte zum Grundeinkommen beleben. Dafür sei ihnen gedankt.

* Irritierend sind einige Fehler bzw. Widersprüche der Herausgeber in diesen Abschnitten, so zum Beispiel die Definition des Grundeinkommens mit den bekannten vier Kriterien (S. 11) und die Kennzeichnung der „Wesensmerkmale“ des Grundeinkommens mit nur drei Kriterien. Die beim Grundeinkommen nicht erfolgende Bedürftigkeitsprüfung wird später nicht als dessen Wesensmerkmal erwähnt (S. 38), entgegen der Definition eingangs.

Literatur:

Popper-Lynkeus, Josef (1912): Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage. Eingehend bearbeitet und statistisch durchgerechnet. Mit einem Nachweis der theoretischen und praktischen Wertlosigkeit der Wirtschaftslehre. Dresden (Dieser Text von Popper-Lynkeus, den Kovce und Priddat auszugsweise wiedergeben, kann unter https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11022849_00003.html [3] vollständig heruntergeladen werden.)

Popper-Lynkeus, Josef (1923): Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage. Zweite Auflage, Wien, Leipzig. München.