Gut begründet ist das nicht: Zum Hartz-IV-Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts, Teil 2
Teil 1 des Beitrages zum Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts thematisiert und bewertet die Grundaussagen des Urteils. Anlass und seine gesellschaftspolitische Bedeutung kommen ebenfalls zur Sprache. Der erste Teil kommt zu dem Ergebnis, dass dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich alle Türen offenstehen. Er kann weiterhin sanktionieren, indem er die Grundsicherung kürzt, er kann die Grundsicherung sanktionsfrei machen oder gar ein Grundeinkommen einführen. Das sind allesamt verfassungskonforme Wege, um das Grundrecht auf ein Existenz- und Teilhabeminimum zu gewähren. Der Staat hat die Pflicht dazu. Der Gesetzgeber kann bzw. darf die Grundrechtsträger*innen zwar dazu verpflichten, ihre eigene Arbeitskraft einzusetzen, um das Existenz- und Teilhabeminimum zu sichern, muss es aber nicht. Dazu verpflichten darf er sie allerdings nur dann, wenn die Pflicht zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft und gegebenenfalls die Folgen der Pflichtverletzung geeignet, erforderlich und zumutbar sind, um das Existenz- und Teilhabeminimum des einzelnen Grundrechteträgers durch eben diese Verpflichtung zu sichern.
Auch für den folgenden Teil 2 des Beitrags zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen bei Hartz IV vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16) gilt: Es handelt sich nicht um eine verfassungsrechtliche Abhandlung. Es geht mir darum nachzuweisen, auf welch tönernen Füßen das Urteil steht, Sanktionen seien verfassungskonform. Genauso wie der erste Teil erhebt auch dieser zweite Teil keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Im Folgenden wird eine Kurzfassung des Teils 2 wiedergegeben. In der Langfassung werden die Urteilspassagen in Gänze zitiert und umfangreichere Fakten genannt. Sie findet sich hier.
1. Aussagen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den bestehenden Mitwirkungspflichten und Sanktionsregelungen bei Hartz IV und zu deren grundsätzlichen Verfassungskonformität
„Die in diesem Verfahren überprüften Regelungen verstoßen gegen Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 und § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II sind in den Fällen des § 31 Abs. 1 SGB II mit dem Grundgesetz unvereinbar; sie können jedoch bis zum Inkrafttreten der Neuregelung durch den Gesetzgeber nach Maßgabe dieses Urteils angewendet werden.“ (Rz 210, Hervorhebung R. B.) 60-Prozent-Kürzungen der Regelleistungen durch Sanktionen bzw. Totalsanktionen (Ausnahme siehe unten) sind verfassungswidrig (vgl. Rz 158, 189 ff.). Die Maßgabe des Urteils zu den 30-Prozent-Kürzungen lautet: Zeitlich starr und zwingend anzuwendende Kürzungen der Regelleistung von 30 Prozent sind verfassungswidrig, ansonsten aber nicht. Das alles gilt aber nur nach derzeitigem Erkenntnisstand, auf der „Grundlage derzeitiger Erkenntnisse“ oder „mangels tragfähiger Erkenntnisse“, so die Formulierungen des BVerfG (vgl. zum Beispiel Rz 137, 189, 200, 201, 211, 214). Allerdings gilt auch: Totalsanktionierungen sind verfassungsrechtlich möglich, wenn keine sogenannte wirkliche Bedürftigkeit (vgl. Teil 1 des Beitrages) vorliegt, also Betroffene „durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit […] ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch Erzielung von Einkommen selbst zu sichern“ (Rz 209) in der Lage wären und dies „willentlich verweigert“ (ebenda) wird.
Unter welchen Voraussetzungen sind laut BVerfG die konkreten Möglichkeiten der Mitwirkungsverpflichtung und der Sanktionen verfassungskonform?
Gemäß dem durch den Gesetzgeber gewählten – aber nicht durch das Grundgesetz vorgegebenen – Nachranggrundsatz sei es laut BVerfG ein legitimes Ziel, dass Menschen die Hilfebedürftigkeit insbesondere durch eigene Erwerbsarbeit vermeiden oder überwinden sollen. Daraus konstruierte Mitwirkungspflichten und zu deren Umsetzung gewählte Instrumente, wie z. B. Sanktionen, müssen aber verhältnismäßig sein, wobei sich die Verhältnismäßigkeit daran bemisst, ob sie zur Gewährleistung des Grundrechts auf ein Existenz- und Teilhabeminimum beitragen. Damit wird aus der Frage, ob Mitwirkungspflichten und Sanktionen grundsätzlich möglich sind (Teil 1 meines Beitrages), nunmehr die Frage, unter welchen Voraussetzungen Mitwirkungspflichten und Sanktionen möglich sind. Die konkrete Frage des BVerfG lautet jetzt: Sind die gewählten Mitwirkungspflichten und die Sanktionen grundsätzlich geeignet, erforderlich und zumutbar, um das Ziel, Hilfebedürftigkeit durch eigene Erwerbsarbeit zu überwinden bzw. zu vermeiden? Das ist eine extreme Verkürzung der ursprünglichen Frage, weil sie die prinzipielle Frage, ob Mitwirkungspflichten und Sanktionen zulässig sind, unbeantwortet lassen muss. Hinzu kommt, dass dem Gesetzgeber wenig Spielraum bleibt, um Sanktionen Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit zu attestieren. Der Gesetzgeber müsse sich dabei auf hinreichend verlässliche Prognosen auf der Grundlage fundierter Einschätzungen stützen. Je länger die Sanktionsregeln schon in Kraft sind und fundierte Einschätzungen, wie Sanktionen wirken, daher möglich sind, genügten plausible Annahmen zur Einschätzung der Zielerreichung nicht, so das BVerfG (Leitzsatz 3).
2. Wie das BVerfG die Mitwirkungspflichten im SGB II als verfassungskonform erklärt und dabei reichlich trickst und ignoriert
Zur vermeintlichen Eignung der Mitwirkungspflichten
Das BVerfG ist der Auffassung, dass Mitwirkungspflichten geeignet seien, um Hilfebedürftigkeit zu vermeiden und zu überwinden. Vermeidung und Überwindung geschähen insbesondere dadurch, dass Mitwirkungspflichten zur Fortführung oder Aufnahme von Erwerbarbeit führten. Letzteres gelte auch für Menschen mit großen Schwierigkeiten (z. B. wegen subjektiven Beschäftigungshindernissen), da auch sie durch die Mitwirkungspflichten wieder an den Arbeitsmarkt herangeführt würden. Diese Aussage trifft das BVerfG, obwohl es einräumt, dass die Erfolgsquoten gering sind, mit der erwerbsfähige und arbeitslose Grundsicherungsbeziehende in den Arbeitsmarkt re-integriert werden. Begründet wird dies mit grundlegenden und mehrfachen Beschäftigungshindernissen der Betroffenen, also mit subjektiven Gründen. Objektive Gründe hingegen, die im ökonomischen System selbst liegen, wie z. B. Arbeitsplatzmangel (große Diskrepanz zwischen der Anzahl offener Stellen und der Anzahl Arbeitsloser) oder nicht existenzsichernde Löhne werden vom BVerfG ignoriert. Die objektiven Gründe sind es aber, die ernsthaft bezweifeln lassen, dass die Mitwirkungspflichten geeignet sind, um das Grundrecht auf ein Existenz- und Teilhabeminimum zu gewährleisten. Weiter wird vom BVerfG argumentiert: Da die Betroffenen vom Umstand der Mitwirkungspflichten und daran geknüpfter Sanktionsfolgen regelmäßig nicht davon abgehalten werden, Leistungen zur Sicherung des Existenz- und Teilhabeminimums einzufordern bzw. überhaupt Kontakt zum Jobcenter zu halten, könne geschlussfolgert werden, dass die Mitwirkungspflicht grundsätzlich geeignet sei, um an den Arbeitsmarkt heranzuführen und so die Hilfebedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. Diese Ausführungen blenden völlig aus, dass die Betroffenen keine andere Wahl haben als sich zur „Mitwirkung zu verpflichten“ und so auch den Kontakt zum Jobcenter aufrecht zu erhalten, weil sie sonst das nicht haben, was sie unter allen Umständen zum menschenwürdigen Leben brauchen. Das ist eine sophistische Verdrehung: Weil es die Betroffenen trotz Mitwirkungspflichten nicht unterließen, etwas nachzufragen, was sie zum menschenwürdigen Leben brauchen, dienten die Mitwirkungspflichten der Sicherung dieses Bedarfs. Das BVerfG ist sich also nicht zu schade, allen Ernstes zu behaupten, die Mitwirkungspflichten seien deshalb geeignet, das Existenz- und Teilhabeminimum der Betroffenen zu sichern, weil diese das Jobcenter aufsuchen, auch wenn die Pflichten bestehen. Lebten dagegen sehr viele im Elend und in Ausgrenzung, weil sie nicht die staatlichen Institutionen aufsuchen, um ihr Existenz- und Teilhabeminimum zu sichern, dann wären die Mitwirkungspflichten laut BVerfG ungeeignet, das Ziel der Existenz- und Teilhabesicherung insbesondere durch eigene Erwerbsarbeit zu erreichen. Massenhafte Verelendung und Wohnungslosigkeit wären also gemäß BVerfG Voraussetzung dafür, dass die Mitwirkungspflichten ungeeignet seien! Dieser BVerfG-Argumentation liegt ein Verständnis von „Eigenverantwortlichkeit“ zugrunde, das bereits im ersten Teil des Beitrags kritisiert wurde. Diesem zufolge zeige sich Eigenverantwortung darin, dass die Betroffenen sich für die Mitwirkung oder gegen diese – mit entsprechenden Folgen – entscheiden. Tatsächlich hat es jedoch überhaupt nichts mit Eigenverantwortung zu tun, wenn die Mitwirkung materiell erpresst wird. Menschen brauchen eine bedingungslos zuerkannte existenzielle Sicherheit, um eigenverantwortlich und autonom handeln zu können. Gesellschaftssysteme mit existenziellen Zwängen laufen dem zuwider. Schenkt man den Worten des BVerfG allerdings Glauben, so könnte man Würde und Eigenverantwortlichkeit von den materiellen Voraussetzungen trennen, die für eine würdevolle und eigenverantwortliche Lebensführung erforderlich sind.
Den Richtenden des BVerfG kann man aber nicht nur ein problematisches, formales Verständnis von Würde und Eigenverantwortung attestieren, sondern auch Unwissenheit oder schlimmstenfalls Ignoranz. Denn rund 56 Prozent der Anspruchsberechtigten nehmen die ihnen zustehenden, größtenteils eher geringen Leistungen zur Sicherung des Existenz- und Teilhabeminimums nicht in Anspruch (vgl. Teil 1 des Beitrages). Das sind zwar in der Regel nicht Personen, die dadurch verelenden oder wohnungslos werden, doch zeigt ihr Verhalten die mangelnde Eignung der Mitwirkungspflichten auf. Denn staatlich zu erfüllende Ansprüche bleiben unerfüllt und Hilfebedürftigkeit bleibt bestehen. Diese Betroffenen sind für das Sozial- und Hilfesystem gar nicht erreichbar, und das auch deshalb, weil die Betroffenen die Mitwirkungspflichten ablehnen. Viele entziehen sich der Mitwirkungspflicht, die sie zum Objekt eines repressiven Sozialstaats macht, der ihr eigenverantwortliches Leben massiv beeinträchtigt. Die massenhafte Nichtinanspruchnahme (verdeckte Armut) bei Hartz IV bezeugt also nicht nur, dass das Sozialsystem grundsätzlich an seinem gesetzlichen Anspruch scheitert, das Existenz- und Teilhabeminimum aller zu sichern. Sie beweist auch, dass die Mitwirkungspflichten selbst dazu beitragen, dass eben Hilfebedürftigkeit nicht überwunden und nicht vermieden wird, weil die Betroffenen vom Grundsicherungssystem mit seinen Mitwirkungspflichten gar nicht erreicht werden.
Die Urteilsbegründung, warum Mitwirkungspflichten und Sanktionen zu deren Durchsetzung geeignet seien, ignoriert also sowohl objektive Gründe, aus denen das Ziel der Vermeidung oder Überwindung der Hilfebedürftigkeit nicht erreicht wird, als auch die Kontraproduktivität der Mitwirkungspflichten, die sich bei der Nichtinanspruchnahme zeigt. Ebenso ignoriert das BVerfG vollkommen, dass sowohl das Eingehen als auch das Erfüllen der Mitwirkungspflichten materiell erpresst wird. Die im BVerfG-Urteil behauptete Verhältnismäßigkeit der Mitwirkungspflichten, inklusive deren Durchsetzung im SGB II, steht daher auf tönernen Füßen.
Zur vermeintlichen Erforderlichkeit der Mitwirkungspflichten
Hinsichtlich der Bewertung der Erforderlichkeit der Mitwirkungspflichten behauptet das BVerfG, dass der Gesetzgeber seinen Einschätzungsspielraum, ob die Mitwirkungspflichten erforderlich seien, nicht überschreite. Denn es sei nicht evident, dass z. B. positive Anreize dasselbe bewirken könnten wie die im SGB II fixierten Mitwirkungspflichten (nicht evident heißt, es ist nicht augenscheinlich, es liegt nicht auf der Hand). Begründet wird diese Behauptung durch das BVerfG nicht, geschweige denn problematisiert. Konkret stehen folgende Fragen im Raum und werden vom BVerfG nicht aufgegriffen bzw. nicht beantwortet: Wieso können positive Anreize, z. B. durch Gratifikationen bei Mitwirkungshandlungen (wenn Bewerbungs-, Fortbildungsbemühungen etc. erfolgen), nicht die gleichen oder sogar mehr Mitwirkungshandlungen bewirken? Womöglich stärken auch attraktive Erwerbsarbeits- und Fortbildungsangebote oder geringere Anrechnungen des Erwerbseinkommens auf die Grundsicherung die Mitwirkungsmotivation? Welche Theorien, welche Beispiele, Experimente und Forschungsergebnisse gibt es dazu, in Deutschland und in anderen Ländern? Ging das BVerfG diesen Fragen überhaupt nach? Offensichtlich nicht. Die Behauptung des BVerfG hinsichtlich der Nichtevidenz ist auch vor dem Hintergrund der Aussage des BVerfG bemerkenswert, dass der Gesetzgeber nicht nur positive Anreize, sondern eben auch negative Anreize setzen kann. Da der Gesetzgeber faktisch aber gar keine bzw. so gut wie keine positiven Anreize zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit gesetzt hat, ist deren Wirksamkeit natürlich auch nicht nachweisbar.
Die im Urteil gegebene Begründung der Erforderlichkeit von Mitwirkungsverpflichtungen und deren Durchsetzung durch Sanktionen ignoriert andere Möglichkeiten, das Ziel der Vermeidung oder Überwindung der Hilfebedürftigkeit zu erreichen. Die im BVerfG-Urteil behauptete Verhältnismäßigkeit der Mitwirkungspflichten inkl. deren Durchsetzung bei Hartz IV steht daher auf äußerst tönernen Füßen.
Zur vermeintlichen Zumutbarkeit von Mitwirkungsverpflichtungen
Laut BVerfG seien die Mitwirkungspflichten zumutbar. Es ignoriert dabei das Verbot von Zwangsarbeit und das Grundrecht der Berufsfreiheit (vgl. auch Teil 1 des Beitrags). Auch hier gilt: Die behauptete Verhältnismäßigkeit der Mitwirkungspflichten steht auf äußerst tönernen Füßen
Zusammenfassung zu Punkt 2:
Fragwürdig ist, ob Mitwirkungspflichten und Sanktionen überhaupt verfassungskonform sind. Aus den dargelegten Gründen steht die Behauptung des BVerfG, die Mitwirkungspflichten seien verhältnismäßig, auf tönernen Füßen. Das BVerfG trickst in seinem Urteil, indem es Behauptungen aufstellt, wo es einer Begründung bedürfte oder indem es schlichtweg ignoriert, was gegen seine Behauptungen spricht. Es ist m. E. keineswegs so, dass die Mitwirkungspflichten, erst recht nicht, wenn sie mit der Ahndung von Pflichtverletzungen durch Leistungsminderungen (Sanktionen) verbunden sind, geeignet, erforderlich und zumutbar sind, um das vom Gesetzgeber wählbare Ziel der Vermeidung oder Überwindung der Hilfebedürftigkeit, insbesondere durch Erwerbsarbeit, zu erreichen.
3. Wie das BVerfG die Sanktionen bis zu 30 Prozent der Regelleistung im SGB II als generell verfassungskonform erklärt und dabei reichlich trickst und ignoriert
Das BVerfG ist der folgenden Auffassung: „Die Entscheidung des Gesetzgebers, im Grundsicherungsrecht nicht nur zumutbare Mitwirkungspflichten vorzusehen, um die Bedürftigkeit zu überwinden und insbesondere Menschen wieder in Arbeit zu bringen, sondern diese Pflichten […] mit Sanktionen durchzusetzen, ist verfassungsrechtlich im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden, weil er damit ein legitimes Ziel verfolgt (a). Die derzeitige Ausgestaltung dieser Sanktionen in §§ 31a, 31b SGB II genügt allerdings den hier strengen verfassungsrechtlichen Maßgaben nicht (b).“ (Rz 153, Hervorhebung R. B). Ziel und Mitwirkungspflichten sind legitim, also verfassungsrechtlich möglich. Die Sanktionen zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten sind ebenfalls legitim, im Sinne von verfassungsrechtlich möglich. Allerdings gilt für das BVerfG: Nach derzeitigem Erkenntnisstand sind nur die 30-Prozent-Sanktionen, die zudem nicht immer starr für den gleichen Zeitraum und auch nicht zwingend anzuwenden sind, verfassungsrechtlich möglich. Ausnahme bilden Totalsanktionen, die bei nicht wirklicher Bedürftigkeit verhängt werden können (siehe oben).
Die vermeintliche generelle Geeignetheit von Sanktionen in Höhe von 30 Prozent der Regelleistung
Das BVerfG behauptet: Die „Regelung einer Leistungsminderung in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs […] ist im verfassungsrechtlichen Sinne vom Ausgangspunkt her hier nicht ungeeignet, den gewünschten Erfolg der Mitwirkung an der Beseitigung der eigenen Hilfebedürftigkeit und der Integration in den Arbeitsmarkt im Recht der Grundsicherung zu fördern“ (Rz 164, Hervorhebung R. B.). Das BVerfG spricht nach längerer Betrachtung von einer generellen Eignung dieser Sanktionen zur Erreichung des genannten Zieles. Denn die Entscheidung des Gesetzgebers für diese Ausgestaltung des Sozialrechts beruht auf einer prognostischen Einschätzung einer Vielzahl von Fällen, in denen Sanktionen vor allem ex ante-Wirkung entfalten, also Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenslagen schon von vornherein zur Mitwirkung an der Beseitigung der eigenen Hilfebedürftigkeit bewegen. Dies genüge, um 30-Prozent-Sanktionen „hinreichend tragfähig zu begründen“ (Rz 175, Hervorhebung R. B.). Sowohl die starre Regelung zum Minderungszeitrum als auch die zwingende Vorgabe der Leistungsminderung ohne ausreichende Einzelfallprüfung, wie sie derzeit gegeben sind, sind hingegen nicht verfassungskonform (vgl. Rz 176 und 177). Das BVerfG muss bei dieser Argumentation auf eine sogenannte „Einschätzungsprärogative“ zurückgreifen, über die ein Gesetzgeber bei der Einschätzung der Eignung von gesetzlichen Regelungen verfügt: „Der Gesetzgeber verfügt in der Beurteilung der Eignung einer Regelung über eine Einschätzungsprärogative. Verfassungsrechtlich genügt grundsätzlich, wenn die Möglichkeit der Zweckerreichung besteht […].“ (Rz 166, Hervorhebung R. B.) Warum muss das BVerfG auf ein solches Einschätzungsvorrecht des Gesetzgebers verweisen, das lediglich auf eine Möglichkeit einer gewünschten Wirkung abstellt? Ganz einfach: Die Geeignetheit, selbst der 30-Prozent-Kürzung, ist nämlich derzeit empirisch nicht abzusichern. Darauf verweist das BVerfG ausdrücklich: „Ob und in welchem Maße die in § 31a SGB II vorgesehenen Leistungsminderungen überhaupt bewirken, dass die Betroffenen ihren Pflichten aus § 31 Abs. 1 SGB II nachkommen, ist auch nicht durch differenzierte Daten belegt. Dargelegt sind hingegen negative Effekte von Leistungsminderungen (ausführlich oben Rn. 65 f.).“ (Rz 167, Hervorhebung R . B.) Und: „Derzeit liegen ausweislich der in dieses Verfahren auf konkrete Nachfragen eingebrachten Stellungnahmen und der mündlichen Verhandlung keine eindeutigen empirischen und nach der Höhe der Leistungsminderung differenzierenden Erkenntnisse zu den Wirkungen der in §§ 31a, 31b SGB II normierten Sanktionen vor.“ (Rz 60, Hervorhebung, R. B.) Weiter führt das BVerfG daher aus: „So lasse sich eine Kausalität zwischen Leistungsminderung und der Arbeitssuche und dem Übergang in Beschäftigung nicht belegen […]. Ob verhängte Sanktionen die Mitwirkungsbereitschaft durch eine Intensivierung der Arbeitssuche erhöhen, ist bislang empirisch nicht belegt. Ebenso ist bislang nicht untersucht und aufgrund der ubiquitären [allgegenwärtigen, überall verbreiteten, R. B.] Wirkung auch kaum verifizierbar, wie hoch die sogenannte ex ante-Wirkung von Sanktionen, also der Effekt schon aufgrund ihrer Existenz oder Androhung, auf die Mitwirkungsbereitschaft einzuschätzen ist.“ (Rz 61, Hervorhebung R. B.) Das BVerfG legt also mehrfach dar, dass es keine empirischen Belege für die Geeignetheit gebe, weder für 30-Prozent-Sanktionen noch für andere Sanktionen bzw. Sanktionsandrohungen. Es gebe laut BVerfG allerdings Studien, die die „positive“ Wirkung von Sanktionen benennen, die „Wahrscheinlichkeit“ der Erwerbsarbeitsaufnahme zu erhöhen. Andere Studien enthielten auch „Hinweise“ darauf, dass Sanktionsandrohungen davor abschrecken, Mitwirkungspflichten zu verletzen, bei einem System ohne Androhungen hingegen davon auszugehen sei, dass „sich Menschen anders verhielten, nämlich höhere Anspruchslöhne [sic!] sowie eine geringere Suchintensität aufweisen würden […].“ (Rz 62, Hervorhebung R. B.). Dann führt das BVerfG noch Studien an, die „negative Wirkungen der Sanktionen auf Betroffene dar[legen]. Dazu gehören der soziale Rückzug und Isolation, Obdachlosigkeit, schwerwiegende psychosomatische Erkrankungen oder Kriminalität zur Erschließung alternativer Einkommensquellen“ (Rz 65). Diese Wirkungen laufen dem Zweck von Sanktionen zuwider, die Hilfebedürftigkeit – insbesondere durch Erwerbsarbeit – zu vermeiden oder zu überwinden. Im Klartext: Der Blick in die Empirie liefert keine Gründe für, sondern gegen die generelle Eignung von Sanktionen. In der Argumentation, warum 30-Prozent-Sanktionen geeignet seien, ist nur von „Hinweisen“ und „Wahrscheinlichkeiten“ die Rede. Nun greift das BVerfG zu einem bewährten verfassungsrechtlichen Trick: Es gibt dem Gesetzgeber wieder einmal alle Freiheiten. Er kann sich auf Studien stützen, die seine Auffassung bestätigen, auch wenn die Studien berechtigt in der Kritik stehen, keine differenzierten Aussagen treffen oder andere Studien vorliegen, die gegen seine Auffassung sprechen. Das BVerfG zieht sich damit auf einen Standpunkt zurück, der kurz und knapp so qualifiziert werden kann: Der Gesetzgeber hat das Recht, sich aus einer Vielzahl von Studienergebnissen das rauszusuchen, was ihm in den Kram passt. Er kann sogar ohne empirischen Nachweise „Wahrscheinlichkeiten“ und „Hinweise“ als Begründung für Sanktionen nutzen. Dem BVerfG ist klar, wie dünn das Eis ist, auf das es sich da begibt. Bricht nämlich das Eis, dann wären selbst die 30-Prozent-Sanktionen ungeeignet und somit unverhältnismäßig sowie verfassungswidrig. Fast die gesamte bestehende Hartz-IV-Sanktionspraxis wäre passé. Weil das BVerfG dies unter allen Umständen vermeiden will, greift es auf das o. g. „Einschätzungsvorrecht“ des Gesetzgebers zurück: „Der Gesetzgeber kann auch von einer ex ante-Wirkung der Leistungsminderungen ausgehen. Er kann insofern als Indiz werten, dass die überwältigende Mehrheit der Leistungsberechtigten ihre Mitwirkungspflichten erfüllt.“ (Rz 170, Hervorhebung R. B.). Diese Argumentation ist uns schon aus der Begründung der Eignung von Mitwirkungspflichten bekannt: Weil die Menschen auf eine Sicherung des Existenz- und Teilhabeminimums angewiesen sind, wollen sie nicht verelenden oder erhebliche Einbußen an Möglichkeiten eines würdevollen Lebens hinnehmen, müssen sie zum Jobcenter gehen und mitwirken. Und dies ist letztlich das einzig wirklich verbleibende und äußerst fragwürdige Argument des BVerfG dafür, dass Sanktionen in Höhe von 30 Prozent geeignet seien, die Betroffenen zur Mitwirkung zu bringen und so das übergeordnete Ziel zu erreichen, Hilfebedürftigkeit insbesondere durch eigene Erwerbsarbeit zu vermeiden und überwinden.
Doch auch damit hat sich meine Kritik an der BVerfG-Behauptung, 30-Prozent-Sanktionen seien für die Erreichung des o. g. Ziels geeignet, noch nicht erschöpft. Denn das BVerfG wird zudem seinen eigenen Maßstäben nicht gerecht. So macht es in den Leitsätzen und Randziffern des Urteils zwar deutlich, dass „Prognosen zu den Wirkungen solcher Regelungen hinreichend verlässlich sein [müssen]; je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit in der Lage ist, fundierte Einschätzungen zu erlangen, umso weniger genügt es, sich auf plausible Annahmen zu stützen.“ (Leitsatz 3, Hervorhebung R. B.) Unter der Rz 134 wird sich sogar direkt bezogen auf plausible Annahmen zur Wirkung von Durchsetzungsmaßnahmen, also zur Wirkung von Sanktionen: „Je länger eine Minderungsregel in Kraft ist und der Gesetzgeber damit in der Lage, fundierte Einschätzungen zu erlangen, umso weniger genügt es, sich auf plausible Annahmen zur Wirkung der Durchsetzungsmaßnahmen zu stützen. Umso tragfähigerer Erkenntnisse bedarf es dann, um die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit dieser Sanktionen zu belegen.“ (Hervorhebung R. B.) Nun müssten aber „fundierte Einschätzungen“ längst vorliegen, da Hartz IV inklusive Sanktionsregelungen bereits über 15 Jahre in Kraft sind. Auch wurde bereits in der alten Sozialhilfe, also bereits vor Hartz IV, jahrzehntelang sanktioniert (vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2019). Sanktionsregeln sind schon sehr lange in Kraft. Obwohl also längst nicht mehr bloß plausible Annahmen getroffen werden müssten, weil tragfähige Erkenntnisse vorliegen könnten, verweist das BVerfG dennoch auf diese und verletzt damit seine eigenen Leitsätze. Das belegt die folgende Aussage: Eine „Leistungsminderung von 30 % ist derzeit auf der Grundlage plausibler Annahmen hinreichend tragfähig begründbar.“ (Rz 158, Hervorhebung R. B.) Gleiches findet sich auch an anderer Stelle: „Zwar ist schon die Belastungswirkung einer Minderung um 30 % des Regelbedarfs außerordentlich (1) und die Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit sind entsprechend hoch. Hier kann sich der Gesetzgeber jedoch auf plausible Annahmen zu ihrer Eignung stützen.“ (Rz 159, Hervorhebung R. B.)
Das BVerfG bricht also mit dem eigenen Leitsatz, sich nicht auf plausible Annahmen stützen zu können, wenn es um die vermeintliche Eignung der 30-Prozent-Sanktionen geht.
Ich glaube, dass sich das BVerfG der eigenen Unfähigkeit sehr bewusst ist, wirklich ein sicheres Urteil zu fällen. Deshalb sieht es sich gezwungen, äußerst trickreich zu urteilen. Denn immer wieder bemüht es Formulierungen wie „nach derzeitiger Erkenntnis(lage)“, „nach derzeitigem Erkenntnisstand“ oder „mangels tragfähiger Erkenntnisse“. Das Bemühen des BVerfG, dass selbst gesteckte Normativ der gesicherten Erkenntnis über die gewünschte Wirkung von Sanktionen zu erreichen, ist angesichts der mangelnden Erkenntnislage nicht erreichbar. Damit wäre eigentlich schon alles zu den behandelten Sanktionen in ihrer ganzen Bandbreite gesagt: Sie sind verfassungswidrig. Aber wenigstens die 30-Prozent-Kürzung mussten, so meine Annahme, mit den genannten Tricks durch das BVerfG gerettet werden. Ohne diese wäre nämlich fast die gesamte Sanktionspraxis bei Hartz IV verfassungswidrig. Denn es besteht eine ungesicherte Erkenntnislage hinsichtlich der Wirkung aller behandelten Sanktionen und damit wäre für alle Sanktionsgrade, die Gegenstand des Urteils waren, das „Aus“ zwangsläufig – auch für die 30-Prozent-Sanktionen.
Die Verletzung eigner Normen / Leitsätze des Urteils und die Ignoranz bekannter Fakten durch das BVerfG, die gegen die Geeignetheit auch der 30-Prozent-Sanktionen sprechen, lassen den Schluss zu, dass die 30-Prozent-Sanktionen weder geeignet noch verhältnismäßig sind.
Ein weiteres Argument ignoriert das BVerfG in seinen Ausführungen vollkommen: Widersprüche und Klagen gegen Hartz-IV-Sanktionen sind nämlich in nahezu 4 von 10 Fällen rechtswidrig. Bei dieser Relation bleibt unbeachtet, dass die tatsächliche Anzahl der rechtswidrigen Anwendung von Sanktionen unbekannt ist, weil nicht bekannt ist, wie viele Betroffene sich nicht rechtlich gegen rechtswidrig verhängte Sanktionen zur Wehr setzen. Die Zahl der rechtswidrigen Sanktionen kann also noch viel höher sein. Schon dadurch wird die Geeignetheit der Sanktionen als Durchsetzungsmittel von Mitwirkungspflichten zwecks Sicherung des Existenz- und Teilhabeminimums grundsätzlich in Frage gestellt.
Die vermeintliche generelle Erforderlichkeit von Sanktionen in Höhe von 30 Prozent der Regelleistung
Das BVerfG erklärt, dass der Beurteilung der 30-Prozent-Sanktionensregelungen als generell erforderlich (mit o. g. Einschränkungen hinsichtlich der zeitlichen Starre und Zwangsläufigkeit der Sanktionen) nichts entgegensteht (vgl. Rz 178). Weiter heißt es zur Erforderlichkeit: „Auch in der Einschätzung der Erforderlichkeit besteht grundsätzlich ein Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers; was erforderlich ist, um legitime Ziele zu erreichen, ist durch die Verfassung nicht vollständig determiniert. Erforderlich ist ein Gesetz im verfassungsrechtlichen Sinne daher bereits, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber ein Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können […].“ (Rz 179, Hervorhebung, R. B.) Hätte der Gesetzgeber nun aber nicht ein „anderes, gleich wirksames Mittel“ wählen können? Eins, das kein Grundrecht verletzt oder zumindest weniger stark verletzt? Darüber verliert das BVerfG kein Wort. Es stellt lediglich Behauptungen auf, die eigenen Leitsätzen nicht gerecht werden: „Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass eine Sanktion zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten erforderlich ist, und die Entscheidung in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II für eine Leistungsminderung in Höhe von 30 % halten sich noch in seinem Einschätzungsspielraum. Hinsichtlich der Sanktion als solcher wie auch im Hinblick auf diese Höhe ist die gesetzgeberische Annahme hinreichend tragfähig, dass mildere, aber gleich wirksame Mittel nicht zur Verfügung stehen. Hinsichtlich einer Minderung in dieser Höhe erscheint jedenfalls plausibel, dass eine spürbar belastende Reaktion die Betroffenen dazu motivieren kann, ihren Pflichten nachzukommen, und eine geringere Sanktion oder positive Anreize keine generell gleichermaßen wirksame Alternative darstellen.“ (Rz 180, Hervorhebung R. B.) Mit keinem Wort wird darauf eingegangen, ob überhaupt der Nachweis erbracht wurde, dass mildere Sanktionen oder positive Anreize weniger „wirksam“ sind – es reicht dem BVerfG einfach die Annahme des Gesetzgebers, dass es mildere, gleich wirksame Mittel zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten nicht zur Verfügung stehen. Das ist nicht mehr nur ein Trick, sondern eine absichtliche oder unabsichtliche Nachlässigkeit, die mit den Normen / Leitsätzen des BVerfG bricht. Es wird vom BVerfG erneut die vielfach bemühte Formel benutzt: „Hier kann sich der Gesetzgeber jedoch auf plausible Annahmen zu ihrer Eignung stützen […] und davon ausgehen, dass mildere Mittel nicht ebenso effektiv wären […].“ (Rz 159, Hervorhebung, R. B.)
Auch hier gilt: Die Verletzung eigens vom BVerfG formulierter Normen und Leitsätze, das Behaupten der Alternativlosigkeit bestehender Regelungen und die Ignoranz möglicher Alternativen zu den 30-Prozent-Sanktionen, lassen den Schluss zu, dass die 30-Prozent-Sanktionen nicht erforderlich und verhältnismäßig, damit verfassungswidrig sind.
Zur vermeintlichen generellen Zumutbarkeit der 30-Prozent-Sanktionen
Das BVerfG schreibt Folgendes: „Zumutbar ist eine Leistungsminderung in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs jedoch nur, wenn in einem Fall außergewöhnlicher Härte von der Sanktion abgesehen werden kann und die Minderung nicht unabhängig von der Mitwirkung der Betroffenen starr andauert.“ (Rz 159, Hervorhebung R. B.) Das BVerfG fügt erläuternd hinzu: „Er [der Gesetzgeber, R. B.] kann die Zumutbarkeit der Sanktion im Einzelfall aber auch durch eine Härtefallregelung sicherstellen, die es der Behörde ermöglicht, von einer unzumutbaren Sanktion abzusehen.“ (Rz 185, Hervorhebung R. B.) Das BVerfG nennt noch eine andere Möglichkeit, zwischen zumutbaren und unzumutbaren Sanktionen zu unterscheiden: „Da der Gesetzgeber an die Eigenverantwortung der Betroffenen anknüpfen muss, wenn er existenzsichernde Leistungen suspendiert, weil zumutbare Mitwirkung ohne wichtigen Grund verweigert wird (oben Rn. 130), ist eine Leistungsminderung in der Gesamtbetrachtung nur zumutbar, wenn sie grundsätzlich endet, sobald die Mitwirkung erfolgt.“ (Rz 186, Hervorhebung R. B.) Soweit zur Möglichkeit des Gesetzgebers, die Unzumutbarkeit von Sanktionen im Einzelfall zu minimieren bzw. zu vermeiden.
Die Zumutbarkeit der Sanktion muss aber generell die Norm der Verhältnismäßigkeit erfüllen. So bleibt dem BVerfG nur noch die Möglichkeit, erneut den prinzipiellen Spielraum des Gesetzgebers zu bemühen, um die Verfassungskonformität, hier im Hinblick auf die Zumutbarkeit der 30-Pozent-Sanktionen zu begründen: „Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verlangt, dass bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere der Belastung, dem Gewicht und der Dringlichkeit der sie rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt wird […]. Der Gesetzgeber verfügt auch hier über einen – wenn auch nicht unbeschränkten – Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum. Es ist jedenfalls auch bei der Ausgestaltung des Sozialrechts nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, von zahlreichen Faktoren abhängige Wertungen selbst vorzunehmen, sondern dem Gesetzgeber überantwortet, eine solche Entscheidung zu treffen (oben Rn. 122). Der Gesetzgeber kann sich danach trotz der großen Belastung der Betroffenen aufgrund der zumindest plausiblen Annahmen zur Wirkung spürbarer Sanktionen (oben Rn. 180) für eine vorübergehende Leistungsminderung um 30 % als Durchsetzungsinstrument einer legitimen Mitwirkungspflicht entscheiden.“ (Rz 183, Hervorhebung, R. B.)
Auch hier wird wieder die plausible Annahme des Gesetzgebers bemüht – entgegen der eigenen Normen und Leitsätze des BVerfG, dass dies nicht möglich sei. Und dem Gesetzgeber wird faktisch, entgegen der Verpflichtung auf Gewährleistung des Existenz- und Teilhabeminimums, die Entscheidungsgewalt zugesprochen, dieses Minimum zu minimieren – durch vermeintlich zumutbare Sanktionen.
Zusammenfassung zu Punkt 3:
Zusammenfassend kann man auf sagen, dass das BVerfG der Frage, was denn die 30-Prozent-Sanktionen der Regelleistung generell verfassungskonform mache, weitestgehend ausweicht. Es verweist nämlich erstens auf einen vermeintlich gegenwärtigen Kenntnisstand, der eine endgültige Antwort nicht möglich mache. Dazu gehört zweitens, dass das BVerfG dem Gesetzgeber zugesteht, sich beim Einschätzen auf passende Studienergebnisse hinsichtlich der Verfassungskonformität zu berufen und unpassende zu ignorieren. Drittens verweist das BVerfG auf den Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers hinsichtlich der Verfassungskonformität, bricht dabei allerdings seine eigenen verfassungsrechtliche Normen und Leitsätze.
Das BVerfG arbeitet bei dieser faktischen Nichtbeantwortung der Frage trickreich, in dem es a) dem Gesetzgeber weitgehend selbst überlässt, Einschätzungen und Entscheidungen zu treffen, indem es b) seinen eigenen Begründungen und Behauptungen weder einer kritischen Prüfung unterzieht noch Alternativen in Erwägung zieht, und in dem es c) andere Grundrechte und Verbote, die im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf die staatliche Gewährleistung eines Existenz- und Teilhabeminimum stehen, wie z. B. dem Verbot der Zwangsarbeit und dem Recht auf Berufsfreiheit ignoriert.
Aus meiner Sicht steht das gesamte Sanktions-Urteil auf äußerst tönernen Füßen. Das BVerfG scheitert an eigenen Maßstäben, wie die Verfassungskonformität der 30-Prozent-Sanktionen zu prüfen sei.
Schlussfolgerung aus Teil 1 und Teil 2 des Beitrags zum Sanktionsurteil des BVerfG
Man kann und soll sich am Urteil des BVerfG zu den Hartz-IV-Sanktionen abarbeiten. Man kann und soll verfassungsrechtlich relevante Fakten sammeln, die die These untermauern, Mitwirkungspflichten und Sanktionen seien verfassungswidrig. Genauso, wenn nicht sogar wichtiger ist es aber aus meiner Sicht, politisch dafür einzutreten, dass die Sanktionen abgeschafft werden und ein Grundeinkommen eingeführt wird.
Warum ist dies wichtiger? Erstens, weil sich das BVerfG meiner Meinung nach auch in Zukunft immer wieder auf die Entscheidungsmacht des Gesetzgebers berufen wird. Zweitens, weil das BVerfG sich in eine rechtsphilosophischen Sackgasse manövriert hat, mit der Behauptung, dass trotz gesellschaftlich (staatlich) erzeugter existenzieller Zwänge Menschen eigenverantwortlich handeln können. Aus dieser Sackgasse kommt es nicht mehr raus, ohne das Gesicht zu verlieren. Drittens haben Sanktionen, die die Existenz- und Teilhabesicherung betreffen, eine immense gesellschaftspolitische Bedeutung: sie konstituieren Gewaltherrschaft. In Erich Fromms Worten geht es letztlich um die „Anwendung von Gewalt von seiten der Herrschenden“, die neben der ökonomischen Gewalt herrschender Lohnarbeitsverhältnisse die staatliche Gewalt mittels des Sozialsystems einsetzt, und zwar so, dass „alle vom Hungertod bedroht waren [sind], die nicht bereit waren [sind], die ihnen auferlegten Bedingungen in bezug auf ihre Arbeit und ihre soziale Existenz zu akzeptieren. Jeder, der nicht bereit war [ist], diese Bedingungen anzunehmen, sah [sieht] sich der Gefahr, verhungern zu müssen, ausgesetzt, und zwar sogar dann, wenn keine anderen Gewaltmaßnahmen gegen ihn angewandt wurden [werden]“ (vgl. Teil 1 des Beitrages zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts). Der ökonomische und staatliche Zwang zur Lohn-/ Erwerbsarbeit ist eine herrschaftskonstituierende Säule des gegenwärtigen Gesellschaftssystems. Die Schleifung dieser Säule ist eine zutiefst politische Angelegenheit und für eine im gesellschaftlichen System tief verwurzelte Institution wie dem Bundesverfassungsgericht einfach eine Nummer zu groß.
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