Grüne Grundeinkommens-Diskussion geht weiter
Rückblick auf Nürnberg
Die Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) in Nürnberg war ein erster Höhepunkt und wichtiger Zwischenschritt in der Diskussion über das Grundeinkommen in unserer Partei. Zwar konnte sich der Antrag des Landesverbands Baden-Württemberg nicht durchsetzen, er erfuhr mit über 40 Prozent jedoch eine große Zustimmung. Das stimmt uns hoffnungsvoll und macht Mut für die weitere Diskussion. Die Abstimmung hat gezeigt, dass nicht nur eine kleine Minderheit in unserer Partei ein Grundeinkommen unterstützt. In einer Situation, in der vielen Delegierten auch daran lag, Geschlossenheit zu demonstrieren und den Bundesvorstand nicht zu beschädigen, votierten über 40 Prozent für das Grundeinkommen.
Trotz des Votums gegen den Baden-Württemberger Antrag werten wir den beschlossenen Antrag nicht als Niederlage. Im Gegenteil: Der Beschluss enthält sehr viele Elemente, die dem Grundeinkommen sehr nahe sind. Es wird eine Individualisierung der Leistungen angestrebt, Sanktionen dürfen nicht unter das sozio-kulturelle Existenzminimum gehen, die Regelleistungen sollen erhöht werden. Bündnis 90/Die Grünen treten nun auch ein für einen Öko-Bonus, eine Brückenexistenzsicherung, die an keine Gegenleistungen gekoppelt ist und perspektivisch für eine bedingungslose Kindergrundsicherung ein. Der Beschluss sieht auch die Weiterentwicklung des Konzepts der negativen Einkommenssteuer vor, das von BefürworterInnen eines Grundeinkommens vorgeschlagen wurde.
Mit neuem Schwung in die nächste Runde
Manchmal haben wir den Eindruck, dass die Zufriedenheit über den Nürnberger Beschluss auf Grundeinkommensseite größer ist als bei den GrundeinkommensskeptikerInnen. Wir sollten uns aber nicht nur auf die Umsetzung des Parteitagsbeschlusses konzentrieren. Im Gegenteil: Selbst im Beschluss wird explizit darauf hingewiesen, dass die Diskussion um ein Grundeinkommen in unserer Partei weiter geht. Negative Einkommenssteuer, Bildungsfinanzierung und die Existenzsicherung im Alter sind Stichwörter dazu. Unser Anliegen ist in dem Beschluss von Nürnberg nicht voll aufgehoben und nicht alle Fragen sind beantwortet. Viele der oben genannten Punkte sind noch vage. Wir haben noch keine ausreichenden Antworten auf offene und verdeckte Armut, das Abrutschen der Mittelschicht, den dramatisch größer gewordenen Niedriglohnsektor und die gewandelten Arbeitsverhältnisse entwickelt. Demokratische Teilhabe, Armutsbekämpfung und Integration bleiben nach wie vor zentrale Anliegen für uns.
Wir wollen den Faden der Diskussion wieder aufnehmen. Gerade weil wir mit Konzepten, die von dem Grundeinkommen inspiriert sind, auch in den anstehenden Wahlkämpfen punkten wollen. Bei der Erstellung des Europawahlprogramms und des Wahlprogramms zur Bundestagswahl wollen wir uns intensiv einbringen. Deswegen müssen wir jetzt die konzeptionelle Arbeit wieder aufnehmen, um mit schlüssigen Konzepten zu punkten. Zwar sind wir nach wie vor davon überzeugt, dass ein allgemeines Grundeinkommen die richtige Antwort auf viele drängende Fragen gibt. Wir glauben aber, dass wir für die Wahlprogramme einzelne Grundeinkommensbausteine konzeptionell weiter entwickeln müssen, um auch bei der Umsetzung schon bald erste Schritte in Richtung Grundeinkommen machen zu können. Deswegen schlagen wir vor, uns in der nächsten Zeit (bis zur Bundestagswahl) auf einzelne Projekte für das Bundestags- und Europawahlprogramm zu konzentrieren, bei denen wir an dem Beschluss von Nürnberg anknüpfen und darauf aufbauen können.
Folgende Projekte könnten dabei aus unserer Sicht im Vordergrund stehen:
- das Konzept einer sanktionsfreien Grundsicherung
- die Ermöglichung von Bildung und Weiterbildung, bürgerschaftlichem Engagement und Familienarbeit bei gleichzeitigem Grundsicherungsbezug
- die Weiterentwicklung und Finanzierung des Konzepts der negativen Einkommensteuer
- die bedingungslose Kindergrundsicherung
- eine armutsfeste Existenzsicherung im Alter
- die Brückenexistenzsicherung
Diese Liste ist bestimmt nicht vollständig. Es gibt viele weitere Punkte, die wir diskutieren und erarbeiten müssen. Allerdings ist die Zeit bis zur Erstellung des Wahlprogramms recht kurz und es besteht die Gefahr, dass wir uns in der Diskussion verzetteln, wenn wir uns nicht auf einige wenige Punkte konzentrieren. Parallel und nach der Diskussion zum Wahlprogramm müssen wir die Grundeinkommensdebatte erweitern. Unsere Forderungen für das Wahlprogramm dürfen aber nicht zu umfassend sein.
Was meint ihr? Liegen wir mit unseren Vorschlägen richtig? Welche Projekte würdet Ihr bevorzugen? Habt Ihr weitere Vorschläge? Wer würde sich an der Weiterentwicklung von welchem Projekt beteiligen?
Diese Diskussion wollen wir auf der Debattenliste des Grünen Netzwerks Grundeinkommen (http://gruene-berlin.de/cgi-bin/mailman/listinfo/gruenes_netzwerk_grundeinkommen) mit Euch gemeinsam führen. Wir freuen uns auf Eure Beiträge.
Berlin, 15. Mai 2008
-
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (MdB)
Dirk Jacobi (KV Pankow)
Manuel Emmler (KV Mitte)
Thomas Poreski (KV Reutlingen)
Bärbl Mielich (Landtagsabgeordnete Baden-Württemberg)
Dr. Robert Habeck (Landesvorsitzender Schleswig-Holstein)
Stefan Ziller (Landtagsabgeordneter Berlin)
Sylvia Kotting-Uhl (MdB)
Monika Lazar (MdB)
Dr. Gerhard Schick (MdB)
Dr. Anton Hofreiter (MdB)
Dr. Harald Terpe (MdB)
Ska Keller (Landesvorsitzende Brandenburg)
Christoph Erdmenger (Landesvorsitzender Sachsen-Anhalt)
Beate Müller-Gemmeke (Landesvorstand Baden-Württemberg)
Uwe Fröhlich (Landesvorstand Brandenburg)
Dr. Frank Geraets (KV Pankow)
Dr. Joachim Behncke (KV Steglitz-Zehlendorf)
Winfried Böhler (KV Stuttgart)
Frank Peters (KV Bad Dürkheim)
Prof. Dr. Michael Opielka (KV Bonn)
Anhang
(Auszüge aus dem Nürnberger Beschluss)
Allgemein
Die Grüne Grundsicherung heute anzupacken, heißt nicht, die Diskussion über die Zukunft des Sozialen damit einzustellen. Mit diesem Beschluss ist auch die Diskussion über das Grundeinkommen nicht beendet – zumal sie ja in der Gesellschaft weitergeht. Die Diskussion soll weitergehen. Zum Beispiel über die Frage, ob und gegebenenfalls wie sich eine negative Einkommenssteuer, die in einigen Grundeinkommensmodellen vorgeschlagen wird, auch mit dem Grünen Grundsicherungskonzept verbinden lässt. Wir wollen weiter diskutieren über die Ausgestaltung der Bildungsfinanzierung sowie über die Existenzsicherung im Alter angesichts der Gefahr sich ausbreitender Altersarmut.
Individualisierung
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen für den eigenständigen Rechtsanspruch aller Menschen beiderlei Geschlechts auf soziale Absicherung und grundsätzliche individuelle Ansprüche auf Leistungen. Dieser Individualisierung steht im Gegenzug der Abbau von Privilegien im Steuersystem und in den Sozialversicherungen gegenüber, die an die Ehe gebunden sind. Ehegattensplitting, die Steuerklassen drei bis fünf und bestimmte Regelungen in der Renten- und Krankenversicherung zielen noch immer auf ein überholtes „Alleinernährer- Modell“ und befördern die Nicht- oder Teilerwerbstätigkeit vor allem von Frauen.
(…)
Die Grüne Existenzsicherung betrachtet auch in Partnerschaft lebende Männer und Frauen als eigenständige Individuen. Die Existenzsicherung darf ihnen nicht aufgrund des Einkommens ihres Partners vorenthalten werden, da sie sonst finanziell abhängig vom Partner würden. Deshalb soll die Grundsicherung individualisiert und umgebaut werden. Deshalb soll die Existenzsicherung langfristig vollständig individualisiert werden. Dieser Prozess muss jedoch von der Individualisierung anderer Systeme wie der Einkommensteuer sowie der Kranken- und Rentenversicherung begleitet werden. Schon jetzt müssen aber Ehe- und LebenspartnerInnen einen eigenständigen Anspruch auf Beratung und auf aktive Förderung bei der Arbeitsplatzsuche haben.
Sanktionen
Gegenwärtig setzt die Arbeitsmarktpolitik vor allem auf Sanktionen, nicht auf Angebote, um „Gegenleistungen“ der Transfer-EmpfängerInnen zu erreichen. Das ist falsch. Der Grundbedarf, der für eine Teilhabe an der Gesellschaft notwendig ist, muss jeder Zeit gewährleistet sein und darf nicht durch Sanktionen angetastet werden. Die Frage nach der Gegenleistung wird nicht durch Zwang, sondern vor allem durch faire Spielregeln und positive Anreize beantwortet. Dazu gehören wesentlich bessere Zuverdienstregelungen. Die Erwartung einer „Gegenleistung“ darf nicht zum Ausgangspunkt werden für bürokratische Zumutungen, bei denen am Ende die Würde der Betroffenen auf der Strecke bleibt. Stattdessen müssen zwingend die Fähigkeiten, Vorstellungen und Wünsche der Hilfebedürftigen berücksichtigt werden. Es muss ein Wunsch- und Wahlrecht geben, das Recht jeder und jedes Einzelnen, selbst vorzuschlagen, wie sie am besten zum Nutzen der Gesellschaft beitragen können und wollen. Eigeninitiative soll gefördert werden, wobei Engagement bei der Jobsuche, Existenzgründung, Aus- und Weiterbildung, Familienarbeit, Pflege und Ehrenamt berücksichtigt werden sollen. Eine angemessene, auch monetäre Anerkennung und Würdigung von Ehrenamt, bürgerschaftlichem Engagement bzw. gemeinwohlorientierter Arbeit darf nicht einher gehen mit Kürzungen der Sozialleistungen. Wird Fähigkeiten, Wünschen und Vorschlägen der Einzelnen nicht Rechnung getragen und besteht keine Wahl zwischen verschiedenen Förderangeboten, dürfen keine Sanktionen verhängt werden. Angesichts der geringen praktischen Bedeutung von Sanktionen (bundesweit durchschnittlich etwa ein Prozent) halten wir auch den Vorschlag eines befristeten Sanktionsmoratoriums für einen guten Vorschlag, den wir aufnehmen wollen.
(…)
Unser Ziel ist eine Grundsicherung, die ohne Sanktionen auskommt und das Setzen auf Motivation, Hilfe und Anerkennung statt Bestrafung. Wir wollen das eigenverantwortliche Engagement eines und einer jeden unterstützen und Mut zur Partizipation machen.
Negative Einkommensteuer
In der Kommission des Bundesvorstandes zur Zukunft der sozialen Sicherung wurde das Konzept einer negativen Einkommenssteuer vorgeschlagen, das das Transfer- und Steuersystem systematisch miteinander verknüpfen soll. Damit soll ein gleitender Übergang in den Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Wir werden prüfen, ob und wie sich dieses Konzept mit dem Grundsicherungskonzept verbinden lässt.
Kindergrundsicherung
Die Erhöhung der Regelsätze für Kinder auf 300 bis 350 Euro abhängig vom Alter und der Ausbau des Kinderzuschlags sind für uns vorrangige Maßnahmen. Sie sollen erste Schritte zu einer bedingungslosen Kindergrundsicherung sein, die für alle Kinder das Existenzminimum individuell gewährleistet.
Brückengrundsicherung
Die Brücken-Grundsicherung ist eine Grundsicherung für Phasen der Umorientierung und des Übergangs, etwa zwischen befristeten Jobs, beim Start in die Selbständigkeit oder auch für Phasen der Familienarbeit.
(…)
Die Veränderung der Erwerbsbiografien führt immer häufiger dazu, dass Phasen der Erwerbsarbeit sich abwechseln mit Zeiten der Bildung, der Familienarbeit und des ehrenamtlichen Engagements. Dabei soll die Brücken-Existenzsicherung für eine begrenzte Zeit ohne Gegenleistung eine einfache und unbürokratische Hilfe sein. Sie richtet sich an Menschen, die nur materielle Absicherung benötigen. Um alles andere – den nächsten Auftrag, den nächsten Job oder die neue berufliche Perspektive – kümmern sie sich eigenständig. Für solche selbstbestimmten Phasen wollen wir größere Spielräume eröffnen. Ohne ihre Ansprüche auf Förderung und Beratung zu verlieren, bekommen die Betroffenen Zeit und Raum, um in Eigenregie ihre Projekte zu konzipieren und anzustoßen. Davon profitieren zum Beispiel Menschen, die im sozialen, künstlerischen oder im Medienbereich tätig sind und oft in Jobs arbeiten, die zeitlich begrenzt sind. Ganz bewusst richtet sich die Brücken-Existenzsicherung aber auch an Selbständige, die auf diese Weise vorübergehende Zeiten mit keinem oder geringem Einkommen überbrücken können, ein detailliertes Konzept hierzu werden wir erarbeiten. Die individuellen Freiheitsspielräume werden erhöht.
Wir schlagen deshalb die konkrete Ausarbeitung des Konzeptes der Brücken-Existenzsicherung durch den BuVo und die Bundestagsfraktion vor, das den BezieherInnen mehr Selbstbestimmung sowie Verantwortung und damit Wahlfreiheit für ihre individuelle Lebensplanung verschafft. Die Brücken-Existenzsicherung ist an die Lebenserwerbsphase gekoppelt und kann nach der ersten Ausbildung bis zum gesetzlichen Renteneintritt flexibel in Anspruch genommen werden. Es gleicht einem auf Lebenszeit abrufbaren Konto, über das im Bedarfsfall eigenverantwortlich verfügt werden kann. Mit diesem Modell sollen möglichst weitgehend diejenigen Konzepte aufgehen, die bisher schon eine lebensphasenorientierte Freistellung vom Kontroll- und Vermittlungszwang gewährleisten oder gewährleisten sollen.
30 Mrd. für die Infrastruktur und 30 Mrd. für die Grundsicherung
Wir erkennen einen erheblichen ungedeckten gesellschaftlichen Bedarf an institutionellen und individuellen Transfers, an Bildungsinvestitionen und Grundsicherungsaufgaben. Ein Vergleich mit skandinavischen Ländern zeigt, dass wir etwa 30 Milliarden Euro mehr in das Bildungssystem investieren sollten, um mit den Ländern auf den Spitzenplätzen gleichzuziehen. Für existenzsichernde Löhne bei kleinen Einkommen, die Vermeidung von Kinderarmut und die Abdeckung des tatsächlichen Bedarfs von einkommenslosen Personen sollten wir in den kommenden Jahren einen Betrag in ähnlicher Größenordnung bereitstellen.