Grüne Offene Briefe
Vor der Bundesdelegiertenkonferenz am 23. November polarisiert sich die Debatte bei den Grünen. Im folgenden werden Offene Briefe von Markus Kurth, Dirk Jacobi, Martina Schmiedhofer, Michael Opielka und Friedrich Naehring dokumentiert.
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Betreff: Re: [Gr.NetzGE] AW: [Debatte.bag.sozialpolitik] Offener Brief SozialpolitikerInnen zur BDK in Nürnberg
Datum: Thu, 15 Nov 2007 09:36:50 +0100
Von: Friedrich Naehring
An: Schmiedhofer, debatte.bag.sozialpolitik, Gruenes_Netzwerk_Grundeinkommen
Liebe Martina Schmiedhofer, liebe sozial Engagierte,
als Vater mehrerer Kinder und als selbstbestimmt lebender Mensch, der selbstverständlich soziale Dienste in Anspruch nimmt, stört es mich schon, dass Ihr SozialpolitikerInnnen das Gegenteil von „jeder ist für sich selbst verantwortlich“ wollt. Auch falls diese Offenbarung deiner Grundhaltung, liebe Martina, nur ein verbaler Ausrutscher war, so sagt sie doch viel über die innere Logik unseres gegenwärtigen Sozialsystems.
Wenn der Grundsatz „jeder ist für sich selbst verantwortlich“ nicht im Mittelpunkt jeder Sozialberatung stehen sollte, dann Gute Nacht, oh Freiheit. Diese Verantwortlichkeit für sich selbst gilt es zu stärken und dieses „Ich weiß schon, wass für dich gut ist“ zurück zu nehmen. Oder wollt Ihr einen Sozialstaat, der aus lauter Super-Nannies besteht?
Für mich ist das Grundeinkommen ein materieller Rahmen, innerhalb dessen ich versuchen kann, meinem Leben neue Gestalt zu geben. Es gibt mir mehr Freiheit und Gestaltungsspielraum, als wenn ich meine Auftritte beim Arbeitsamt oder anderen Sozialeinrichtungen danach ausrichten muss, wie ich unter den gegebenen bürokratischen Regeln nun das meiste aus „denen“ für mich ‘rausschinden kann, sei es in Form von Bildung oder als monetäre Unterstützung. Die Mehrheit von uns Mitmachern einer „Maßnahme“ waren so intelligent, um das Spiel zu durchschauen, und wir richteten unsere Aktivität darauf, wie wir denn die nächste „Maßnahme“ bekommen könnten. Wer stützt hier wen? Wir „Hilfsbedürftige“ sichern euch SozialdienstleisterInnen die Arbeitsplätze. Das kann nicht Sinn des Soialstaates sein – einer der Gründe, warum ich denke, dass das Grundeinkommen mehr gesamtgesellschaftliche Effizienz bringt und daher unvermeidlich ist und, über viele Hürden hinweg, realisiert werden wird.
Ganz offen für die Debatte grüßt
Friedrich Naehring
BDK-Delegierter KV Nienburg, Niedersachsen
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Betreff: [Gr.NetzGE] AW: [Debatte.bag.sozialpolitik] Offener Brief SozialpolitikerInnen zur BDK in Nürnberg
Datum: Thu, 15 Nov 2007 00:30:06 +0100
Von: Michael Opielka
An: ‘Schmiedhofer’, ‘Dirk Jacobi’, ‘Debatte BAG Sozialpolitik’
CC: debatte.bag.wirtschaft, gruenes_netzwerk_grundeinkommen, debatte-gruene-linke
Liebe Martina Schmiedhofer, liebe grüne SozialpolitikerInnen,
deine Argumente sind berechtigt. Eine gute Soziale Arbeit ist für die Arbeitsförderung unerlässlich. Gut 58% der Langzeiterwerbslosen, so eine Studie (v. Claus Reiß), haben mindestens ein weiteres Vermittlungshindernis wie Sucht oder Überschuldung.
Nur: was hat das mit der Diskussion Grundeinkommen vs. Grundsicherung zu tun?
Doch nur dann, wenn man ein Grundeinkommen im neoliberalen Sinn fordert, wie dies beispielsweise Thomas Straubhaar macht oder der Bürgergeld-Vorschlag der FDP.
Die grünen Grundeinkommensmodelle gehen alle von einer Grundeinkommensreform aus, die soziale Dienstleistungen eher noch ausbaut.
Allerdings: bei einem Grundeinkommen sinkt in sehr vielen Fällen der Bedarf an Dienstleistungen, weil sich die Menschen selber helfen können, dies zeigen ja die Befunde der „dynamischen Armutsforschung“.
Selbst das Althaus-Modell – zu dem Wolfgang Strengmann-Kuhn und ich eine Analyse vorlegten:
http://www.sw.fh-jena.de/people/michael.opielka/download/Opielka_-_Strengmann-Kuhn_Das_Solidarische_Buergergeld.Finanz-und_sozialpolitische_Analyse_in_Borchard-KAS_Hrsg._Lucius_u_Lucius_2007.pdf
ist eben nicht – wie in der grünen Debatte leider polemisch behauptet, zuletzt auch von Reinhard Bütikofer – per se ein Sozialabbau-Programm. Wir haben die Kalkulation so angelegt, dass sie mit einem klugen Ausbau von Dienstleistungen einher geht.
In der Diskussion Grundsicherung vs. Grundeinkommen geht es um die gesellschaftspolitische Positionsfähigkeit der Grünen, nicht primär um Soziale Arbeit und die Professionalisierung von Diensten. Der „offene Brief“ der grünen SozialpolitikerInnen suggeriert aber genau das. Hier wird ordentlich aus den Mühen der sozialpolitischen Ebene berichtet. Die wird es immer geben, auch bei einem Grundeinkommen. Die politische (!) Frage lautet jedoch: würde ein Grundeinkommen – und natürlich: welches – die Rahmenbedingungen für gute Soziale Arbeit, vor allem aber auch für Eigenständigkeit und damit Emanzipation verbessern? Ich meine, auch weil ich die Ebenen und Mühen des Alltags (als Hochschullehrer für künftige Angehörige der Sozialen Arbeit, als Evaluator und als Praktiker in der psychosozialen Versorgung) kenne, dass ein Grundeinkommen einen dramatischen Schritt nach vorne bedeutet. Es bedeutet mehr Freiheit und zugleich mehr Sicherheit. Es ist nachhaltig und solidarisch. Es erfordert aber Mut und zumindest etwas Risikobereitschaft. Können Grüne wirklich dagegen sein?
Viele Grüße
Michael Opielka
prof. dr. michael opielka
institut für sozialökologie (isö)
königswinter
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.——-Ursprüngliche Nachricht——-
Von: debatte.bag.sozialpolitik-bounces@gruene.de
Im Auftrag von Schmiedhofer
Gesendet: Montag, 12. November 2007 13:39
An: Dirk Jacobi
Cc: Debatte BAG Sozialpolitik Betreff: Re: [Debatte.bag.sozialpolitik]
Offener Brief SozialpolitikerInnen zur BDK in Nürnberg
Lieber Dirk Jacobi, liebe Andere,
ich gehöre zu den Unterzeichnerinnen des offenen Briefes, bei der Du es Dir zum Schluß nicht verkneifen kannst, die direkte Linie zu Oswald Metzger zu ziehen. Schade, denn aus unserem Schreiben geht unser Anspruch auf Verantwortlichkeit für einkommensarme, erwerbsarbeitssuchende und Menschen mit Behinderung sehr deutlich hervor. Es ist genau das Gegenteil von „jeder ist für sich selbst verantwortlich“.
Du fragst, was wir denn eigentlich wollen. Nun, wir wollen nicht mehr und nicht weniger als deutlich mehr Qualität in die bestehende Systeme einbringen, wir wollen sie weiterentwickeln zu Dienstleistern, dazu gehört eine höhere Transferrate für Erwachsene genauso wie eine Kindergrundsicherung, die den finanziellen Anreiz für Menschen mit geringem Einkommen deutlich erhöht.
Ich selbst bin seit vielen Jahren Stadträtin in Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin und kenne noch sehr gut die Lebensrealität der alten Sozialhilfe: alles, aber auch wirklich alles offenlegen an finanziellen Verhältnissen, praktisch kein Selbstbehalt an Ersparnissen, also auch kein Pkw, sehr viel geringere Toleranz bei den Mietkosten, eine Unterhaltspflicht von Angehörigen untereinander, z.B. die alten Eltern für ihren 40jährigen Sohn, aber auch kein finanzieller Anreiz zum Ausbruch aus Familien, in denen mehrere Generationen Sozialhilfe bezogen, Sozialhilfestreitigkeiten landeten bei Verwaltungs- und nicht bei Sozialgerichten, und vor allem: keinerlei Recht auf Maßnahmen zur beruflichen Vermittlung, Qualifikation oder Integration. Stattdessen häufig reine 3 DM-Jobs, ohne jede Qualifizierung, als „Arbeitserprobung“. Wir hatten in unserem Sozialamt soviel wie möglich Unterstützung zur beruflichen Integration versucht, es blieb immer Stückwerk, ständig stießen wir an finanzielle und strukturelle Grenzen: spätestens nach einem Jahr Förderung, wenn wir denn ein Programm auftun konnten, war wieder Schluß. Es war mir deshalb im Rahmen der öffentlichen Debatte um Hartz IV eine Genugtuung, als der Begriff „Bedarfsgemeinschaft“ in das Bewußtsein einer größeren Öffentlichkeit geriet und viele Menschen dachten, dies sei eine neue Erfindung – das Bundessozialhilfegesetz kannte ihn von Beginn an für Sozialhilfeempfangende.
Die Zusammenlegung der Arbeitslosen- mit der Sozialhilfe war für mich deshalb ein Muss, genauso wie der Rechtsanspruch auf Vermittlung und Beratung. Dass wir vieles in den Verhandlungen nicht durchsetzen konnten, liegt in der Natur von Koalitionen – zumal, wenn der Bundesrat mitstimmen muss. Mich hat von Anfang an aber gestört, dass für eine breite Öffentlichkeit das Thema Soziale Sicherung für Arbeitssuchende erst mit Hartz IV anfing – als eine finanzielle Verschlechterung der „Besserverdienenden“ unter den Einkommensarmen anstand. Für die ganz unten stehenden hatten sich vorher nur Fachkreise interessiert. Dass mit Hartz IV statt Minderausgaben erst einmal 12 Mrd. Mehrausgaben ausgelöst wurden, weil 1/3 der Leistungsempfangenden vorher weder Arbeitslosenhilfe noch Sozialhilfe bezogen hat – sich dieser Personenkreis also deutlich besser stellte, ging im überwältigenden Chaos des Beginns vom SGB II unter.
Auch der ARbeitsbeginn im JobCenter Charlottenburg-Wilmersdorf war zu Beginn des Jahres 2005 ein völliges Desaster. Die im Brief erwähnten Unglaublichkeiten häuften sich auch hier – völlig unvorbereitetes Personal, ständig zusammenbrechende Computerprogramme, eine Vielzahl nicht erwarteter Menschen – auch das stürzte mich in ziemliche Verzweiflung. Aber es wurde besser, nach zwei Jahren, mit ausreichend Personal, einem neuen, hoch qualifizierten und empathischen Geschäftsführer sehe ich viele positive Prozesse, mit denen Menschen eine zum Teil mehrjährige Qualifikation erhalten, die sie von alleine nicht nachgefragt hätten. Ich störe mich in der Debatte an dem eingeworfenen Argument des Menschenbildes: die „bedingungslosen“ haben ein gutes, humanitär hochstehendes, die „mit Bedingungen“ ein schlechtes, gängelndes ohne Vertrauen in den Menschen. Ich glaube, wir haben einfach ein realistisches und das halte ich sehr wohl für gut. Ich glaube, und das ist der Kern der Auseinandersetzung, dass ein Anreiz, das Wissen, nicht in Ruhe gelassen zu werden einen erheblichen Anteil zu einer positiven Entwicklung haben kann. Abwesenheit von formalem Zwang ist führt nicht zwangsläufig zu Kreativität, Gemeinsinn und Bildungshunger. Es braucht auch eine Freiheit für etwas. Eine qualifizierte berufliche Beratung beinhaltet auch, gemeinsam zu erkennen, was fehlt, um den Wunschberuf ausüben zu können – und das ist bei einer Quote von 50 % Fehlen eines Hauptschulabschlusses bei den unter 25jährigen bei weitem nicht nur der fehlende Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Dieser Prozeß funktioniert aber nur auf Augenhöhe bei gemeinsamen Vertrauen und er benötigt Zeit. Er kann aber funktionieren. Im JobCenter Charlottenburg-Wilmersdorf wurde eine repräsentative (und natürlich anonyme) Umfrage bei unter 25jährigen durchgeführt, bei der ca. 65 % angaben, dass die Gespräche bei der Vermittlung entscheidend zu ihrem beruflichen Fortschritt beitragen und sie Vertrauen gefaßt haben. (Die anderen waren neutral oder ablehnend). Dieses Ergebnis basiert aber auf einem intensiven Prozesses der Arbeitsvermittler/innen, die einen nachhaltig erfolgreichen Weg einschlagen wollen und dabei auch diejenigen mitnehmen, die wenig Vertrauen in die Kundschaft. Die Sanktionsquote ist ganz niedrig, die niedrigste Berlins, die Arbeitslosigkeit der unter 25jährigen wurde um 5 %-Punkte im letzten Jahr gesenkt.
Ich will das nicht über den Grünen Klee loben, denn es gibt natürlich nach wie vor schlechte Beratungen, weggemobbte Kunden, eine wenig hilfreiche zentralistische Struktur, viel zu wenig Spielräume für Ermessen vor Ort, usw., usw., Aber die positiven Beispiele bestärken mich darin, den Weg der Qualifizierung der Angebotsprozesse zu fordern: z.B. über Vorgaben, die den Erfolg an der nachhaltigen Integration messen und nicht etwa an der Reduzierung der passiven Transferleistungen. Konkrete Hinweise zu einen besseren Struktur sind z.B. dem Berliner Antrag, mit dem wir einen „ermutigenden Sozialstaat“ fordern, zu entnehmen. Wir gehen darin sehr konkret auf die von uns geforderten Rechte der Arbeitssuchenden ein, zu denen eine sehr viel größere Selbständigkeit genauso gehört wie ein Mindestlohn und der Ausbau öffentlicher Infrastruktur im Bereich Kinderbetreuung und Bildung.
Ich bin gerne bereit, über jede einzelne konkrete Maßnahme zu diskutieren, die für mich zu einer entscheidenden Qualitätsverbesserung gehört. Dies ist für mich ein verantwortungsvoller Weg zu einer Sozialpolitik, die auf den erschreckenden Mangel an beruflicher Qualifikation und die Zunahme von patch-work-Berufsbiografien reagiert.
Martina Schmiedhofer
Bezirksstadträtin für Soziales, Gesundheit, Umwelt und Verkehr Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin
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Freitag, den 09.11.2007, 16:54 +0100 schrieb Dirk Jacobi:
Lieber Markus, liebe andere,
interessant finde ich, dass Ihr in dem Brief zwar sagt, was Ihr nicht wollt, aber mit keinem einzigen Wort führt Ihr aus, warum Ihr für welche der in dem BuVo-Antrag erwähnten Maßnahmen seid.
Ihr baut mal wieder den Pappkameraden Grundeinkommen auf, um ihn abzuschießen. Okay, das kennen wir nun schon. Ich dachte allerdings, dass wir in der parteiinternen Diskussion weiter sind und es vor der BDK darum geht, konstruktiv Vorschläge für bündnis-grüne Reformen der Grundsicherung zu diskutieren. Das wollt Ihr offenbar nicht.
Klar mit der Verteidigung konkreter Vorschläge macht man sich angreifbar. Das wissen die BefürworterInnen eines Grundeinkommens nur zu gut. Wenn Ihr doch so in den tagtäglichen sozialpolitischen Konflikten verstrickt seid, müßtet Ihr doch gute Argumente für verschiedene Vorschläge zur Reform der Grundsicherung haben. Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Zumindest nennt Ihr keine Argumente für konkrete Reformschritte. Merkwürdig! So entsteht der Eindruck, dass Eure Einigkeit bei der Ablehnung des Pappkameraden Grundeinkommen aufhört.
Euer Papier hätte jedenfalls problemlos auch Oswald Metzger unterschreiben können. Da stellt sich dann die Frage, wer welche Allianzen eingeht.
Herzliche Grüße,
Dirk Jacobi
(Dipl. Soz.-Wiss.) Berlin
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At 15:49 09.11.2007, Markus Kurth MA01 wrote:
Liebe Freundinnen und Freunde
zur Vorbereitung des Bundesparteitages in Nürnberg möchten wir Euch
unsere fachpolitischen Erwägungen zur Kenntnis bringen und übersenden
Euch in der Anlage den offenen Brief der SozialpolitikerInnen.
Mit grünen Grüßen
Markus Kurth MdB
Büro Markus Kurth, MdB
Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen