Kindergrundsicherung auf dem Weg zum Kindergrundeinkommen? Mitnichten

Ronald Blaschke 17.09.2023 Druckversion

Der Aufschrei der Betroffeneninitiativen und Wohlfahrtsverbände zum Referentenentwurf des Gesetzes zur Kindergrundsicherung war berechtigt. Gleichwohl sollte man dies auch von ihnen erwarten können. Nichtsdestotrotz bleiben auch sie mit ihrer Kritik weit hinter den Forderungen von Jugendverbänden und sozialen Bewegungen zurück.

Aber der Reihe nach:

Hier findet sich der Referentenentwurf des Gesetzes zur Einführung der Kindergrundsicherung aus dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): http://www.portal-sozialpolitik.de/uploads/sopo/pdf/2023/2023-08-30_RefE_BKG.pdf

Eingeleitet wird der Entwurf mit folgenden Aussagen: „Mit der Einführung der Kindergrundsicherung sollen bessere Chancen für Kinder und Jugendliche geschaffen, mehr Familien und ihre Kinder mit Unterstützungsbedarf erreicht sowie Kinderarmut wirksam bekämpft werden; auch durch verbesserte Zugänge zu den Leistungen für Familien bzw. zu Information und Beratung.“

Nach Veröffentlichung des Entwurfs hatten Verbände und Organisation nun sieben Tage Zeit, um Stellung zu beziehen – angesichts der Komplexität der Materie eine ausgesprochen kurze Zeit. Unwürdig kurz erscheint dies auch angesichts der Bedeutsamkeit des gesetzlich zu Regelnden – also von einem nach eigener Aussage des BMFSFJ „zentralen familien- und sozialpolitischen Vorhaben der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode“. Der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles schreibt dazu: „Diese Frist ist eine Unverschämtheit und spricht eigentlich dafür, dass keine Stellungnahme vonseiten des Ministeriums erwünscht ist.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

I Vier grundsätzliche Kritikpunkte am Referentenentwurf und generell am sozialpolitischen Konstrukt Kindergrundsicherung

  1. Ausgrenzung durch Bedürftigkeitsprüfung

Wie schon der Name Kindergrundsicherung sagt, handelt es sich dabei – bis auf den Garantiebetrag von 250 Euro – um eine bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistung für Kinder und Jugendliche. Einkommen und Vermögen der Kinder bzw. Jugendlichen und Eltern sollen geprüft werden. Erst danach bestehen ggf. Ansprüche auf einen Zusatzbetrag. Auch wenn eine weitgehend automatisierte und digitalisierte Erfassung und Prüfung der Daten zur wirtschaftlichen und familiären Situation der Antragstellenden und ihrer Kinder erfolgen soll (auch zwischen verschiedenen Ämtern), bleibt das Kernproblem bedürftigkeitsgeprüfter Leistungen – nämlich ihre hohe Rate der Nichtinanspruchnahme trotz Anspruchsberechtigung – bestehen. Im Referentenentwurf steht: „Für das Einführungsjahr 2025 wird bereits eine erhöhte Inanspruchnahme von 47 Prozent angenommen. Für das Jahr 2026 wird eine Steigerung der Inanspruchnahme auf 60 Prozent, für 2027 auf 70 Prozent und für 2028 auf 80 Prozent angenommen.“ Das heißt, selbst im vierten Jahr nach der Einführung wird noch von einer Nichtinanspruchnahme zustehender Sozialleistungen (hier des Zusatzbetrages) von ca. 20 Prozent, also einem Fünftel aller Anspruchsberechtigten, ausgegangen. Alle früheren Versprechungen zur starken Minderung oder weitgehenden Beseitigung der Nichtinanspruchnahme existenzsichernder Leistungen für Kinder und Jugendliche sind also selbst dann Makulatur, wenn sich die wohl schon optimistischen Prognosen bewahrheiten. Schon damit wird vom Gesetzgeber die Verletzung des Grundrechts auf Absicherung des Existenzminimums für Kinder und Jugendliche billigend in Kauf genommen. Die Lösung wäre einfach: ein Grundeinkommen für alle Kinder und Jugendlichen, so wie es die größten Jugendverbände und soziale Bewegungen fordern. Das würde dem Grundrecht auf Absicherung des Existenzminimums für Kinder und Jugendliche entsprechen und eine systembedingte Nichtinanspruchnahme ausschließen.

  1. Keine Verbesserung der materiellen Situation für viele Kinder und Jugendliche

Das Versprechen ist, die heute bestehende Kinderarmut deutlich zu reduzieren. Fakt ist jedoch, so zeigen es Vergleichsrechnungen vom Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles: Die bei den Familien mit Kindern ankommenden Sozialleistungen werden nicht höher sein als die bestehenden Hartz-V-Leistungen. Dies selbst dann nicht, wenn im Jahr 2025 die Regelbedarfe und Zusatzbeträge inflationsbedingt steigen. Die Betroffenen haben zwar mehr Geld in der Tasche, aber nicht mehr Kaufkraft. Letztlich verändert sich an ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation gar nichts. Auch hier wäre die Lösung einfach: ein Grundeinkommen für alle Kinder und Jugendlichen, so wie es die größten Jugendverbände und soziale Bewegungen fordern. Dieses Grundeinkommen wäre eine ausreichende Absicherung für alle Kinder und Jugendlichen. Diese universelle Leistung, die allen Kindern und Jugendlichen gleiche Rechte zugesteht, wäre finanzierbar durch eine Umverteilung von oben zu mittleren und unteren Einkommensschichten.

  1. Ausgrenzung aus der Sozialleistung Nr. 2

Grundsätzlich verbleibt die Kindergrundsicherung in der Logik einer ausgrenzenden Sozialleistung, von Universalität keine Spur. Der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles stellt in seiner Analyse des Referentenentwurfs fest: „Dann ist entgegen der Ankündigung der Bundesregierung die Kindergrundsicherung keine Leistung für alle Kinder in Deutschland. Vielmehr sollen viele Kinder ohne deutsche Staatsangehörigkeit ausgeschlossen bleiben, wenn ihre Eltern den falschen Aufenthaltsstatus haben. Dies betrifft vor allem Kinder, deren Eltern eine Aufenthaltsgestattung, eine Duldung oder bestimmte Aufenthaltserlaubnisse besitzen, sowie in bestimmten Fällen EU-Bürger*innen. Diese im Kern rassistisch motivierten Exklusionsmechanismen und Ungleichbehandlungen sollen fortgeführt und im Ergebnis sogar ausgeweitet werden. Es wird in Deutschland stärker als zuvor ein Mehrklassensystem von Kindern geben.“ Auch hier wäre die Lösung einfach: ein Grundeinkommen für alle Kinder und Jugendlichen, so wie es die größten Jugendverbände und soziale Bewegungen fordern. Dieses Grundeinkommen wäre eine ausreichende Absicherung für alle in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen, natürlich mit der menschenrechtlich begründeten Zielsetzung, ein Kindergrundeinkommen in allen Ländern der Welt einzuführen.

  1. Verschärfung der indirekten Sanktionen und materieller Zwang für Alleinerziehende zur Erwerbsarbeit

Bisher gilt, dass das alleinerziehende Elternteil bei fehlenden Unterhaltsleistungen für das Kind bis zum 12. Lebensjahr des Kindes Unterhaltsvorschuss beantragen konnte, um dem Kind eine materielle Absicherung zu ermöglichen. Voraussetzung war u. a. ein sogenanntes Mindesteinkommen von 600 Euro des betreffenden Elternteils. Nunmehr wird diese Altersgrenze gesenkt und soll ab der Einschulung gelten. Im Referentenentwurf heißt es: „Beziehende des Kinderzusatzbetrages haben ab der Einschulung grundsätzlich keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss, es sei denn, durch den Bezug von Unterhaltsvorschuss würde ein Anspruch auf den Kinderzusatzbetrag vermieden oder der alleinerziehende Elternteil hat mindestens 600 Euro Erwerbseinkommen.“ Das heißt, wenn das alleinerziehende Elternteil keinen Unterhalt erhält und Unterhaltsvorschuss beantragt, bekommt sie den nur, wenn sie einer Erwerbstätigkeit nachgeht (oder wenn durch den Unterhaltsvorschuss der Bezug des Zusatzbetrages vermieden wird). Faktisch wird damit der materielle Erwerbsarbeitszwang mit Sippenhaft verschärft. Das Kind wird für das politisch als solches deklarierte Fehlverhalten des Elternteils bestraft – denn ein verwehrter Unterhaltsvorschuss wirkt sich auf die Absicherung des Kindes aus. Die Begründung des BMFSFJ: Erwerbstätigkeit der Alleinerziehenden wäre „bei einem Kind ab dem Schulalter auch zumutbar“.  Außerdem wird die Möglichkeit der vorläufigen Zahlungseinstellung der Kindergrundsicherung z. B. bei sogenannter fehlender Mitwirkung der Betroffenen im Referentenentwurf vorgesehen. Dazu der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles: „Die vorläufige Zahlungseinstellung beinhaltet die Möglichkeit die kompletten BKG-Leistungen [Kindergrundsicherungsleistung, R. B.] für zwei Monate einzustellen, ohne Erteilung eines Bescheids und somit auch ohne, dass diese Entscheidung mit außergerichtlichen Rechtsmitteln angreifbar wäre. […] Eine vorläufige Leistungsversagung in der BKG ist mit einer Sanktion in Höhe von 100 % des Regelsatzes und dem Unterkunftskostenanteil des BKG-Berechtigten gleichzusetzen.“ Und festgestellt wird: „Eine solche komplette Leistungseinstellung ist das schärfste Mittel, das die Behörde hat.“ Diese indirekten Sanktionsmöglichkeiten sind durch die Ausgestaltung der Absicherung von Kindern und Jugendlichen als bedürftigkeitsgeprüfte und bedingte Sozialleistungen verursacht. Auch hier wäre die Lösung einfach: ein Grundeinkommen für alle Kinder und Jugendlichen – ohne Bedürftigkeitsprüfungen und ohne Bedingungen, also auch ohne sogenannte Mitwirkungspflichten, so wie es die größten Jugendverbände und soziale Bewegungen fordern.

II Kritik der Wohlfahrtsverbände

Natürlich reagierten die Wohlfahrtsverbände und andere auf den Referentenentwurf scharf und mit berechtigten Argumenten, so zum Beispiel der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles. Nun folgen Zitate ihrer Kritik.

Paritätische Wohlfahrtsverband

„Der Gesetzentwurf verletzt insbesondere den Grundgedanken einer umfassenden Grundsicherung für alle Kinder, indem die Leistung gerade nicht allen Kindern zuteilwerden soll und vor allem nicht solchen, bei denen die monetäre Not und der Mangel an soziokultureller Teilhabe mit am größten ist. Nicht oder nur unzureichend berücksichtigt wurden in dem Gesetzesentwurf z. B. insbesondere Kinder und Jugendliche im laufenden Asylverfahren, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der teil- und stationären Kinder- und Jugendhilfe oder sogenannte Care Leaver. Bestehende Ungleichheiten und Benachteiligungen vor allem der Kinder, die besonders auf Unterstützung angewiesen sind, werden so verfestigt. Auch die Situation vieler Alleinerziehender und ihrer Kinder kann und wird sich durch den vorliegenden Gesetzesentwurf kaum verbessern. Dies ist alarmierend, da Einelternfamilien von allen Familienformen am stärksten von Armut bedroht sind. […] Von einem echten Systemwechsel im Bereich der Familienförderung ist Deutschland daher noch immer weit entfernt. Der Entwurf gleicht eher einer Stückelung halbherziger Ideen, die monetär unzureichend hinterlegt sind und deren praktische Auswirkungen in bestimmten Fallkonstellationen nicht zu Ende gedacht wurden. Aus Paritätischer Sicht verpasst die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine historische Chance und wird dem Begriff einer Kindergrundsicherung nicht gerecht.“

Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles

„Grundsätzlich ist festzuhalten, die Kindergrundsicherung bietet den ärmsten Familien ohne oder mit geringerem Einkommen keine Verbesserung des Leistungsniveaus gegenüber den jetzigen bestehenden und funktionierenden Leistungssystemen. In einigen Fällen erzeugt die Kindergrundsicherung sogar Verschlechterungen, es wird ein bisher in der Schärfe nicht bekanntes sozialrechtliches Sanktionsrecht bei fehlender Mitwirkung geschaffen und mit der Kindergrundsicherung wird ein rassistisch geprägtes Vierklassensystem von berechtigten und ausgeschlossenen Kindern ohne deutsche Staatsangehörigkeit etabliert. Damit verfehlt die Reform ihren Zweck, Kinderarmut ‚wirksam‘ zu bekämpfen fast vollständig.“

Der Aufschrei der Betroffeneninitiativen und Wohlfahrtsverbände zum Referentenentwurf des Gesetzes zur Kindergrundsicherung war zu erwarten. Allerdings verbleiben auch diese mit ihren Kritiken weit hinter den Forderungen der Jugendverbände und sozialen Bewegungen zurück. Die o. g. Aussagen üben zwar berechtigte Kritiken an dem Regierungshandeln der Koalition von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP. Aber: Grundsätzliche Reformen, die die aufgeführten Mängel unkompliziert beheben würden, werden mit keiner Silbe erwähnt, geschweige denn Gegenstand politischen Handelns. Es verbleibt beim (sozialleistungs)systemimmanenten Kritisieren. Von daher ist sowohl der Dialog als auch der politische Druck seitens derjenigen nötig, die grundsätzliche Reformen anmahnen und politisch durchsetzen wollen. Das sind Verbände, die die eigentlichen Betroffenen sprechen lassen, nämlich die Kinder und Jugendlichen, und soziale Bewegungen, die die von Armut und Ausgrenzung Betroffenen einbeziehen: Ihnen ist jedes Kind gleich viel wert und für sie sollen alle Kinder die gleichen Rechte haben. Daher ist das Ziel ein Kindergrundeinkommen. Hier geht es zur Erklärung zum Kindergrundeinkommen, dem diesjährigen Thema der Woche des Grundeinkommens.

Foto: pixabay

Ein Kommentar

Arfst Wagner schrieb am 20.09.2023, 13:34 Uhr

Hier meine Bewertung der Grünen Kindergrundsicherung von vor einem Jahr:

https://www.themen-der-zeit.de/die-gruene-kindergrundsicherung/

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