Vom leitenden Angestellten zu Hartz IV – Der Fall des Dr. M.

Joachim Fuchs-Algrim 18.07.2010 Druckversion

In der Ausgabe Nr. 25 des Wochenmagazins Stern vom 17.6.10 erschien ein Artikel über den finanziellen und sozialen Absturz des Dr. M, der nach 10-jähriger Firmenzugehörigkeit überraschend seine Arbeitsstelle verlor. Dieser Artikel ist deswegen lesenswert, weil er uns Etage für Etage auf der Fahrt nach unten mitnimmt und uns die Möglichkeit gibt, uns auszumalen, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn es in der Gesellschaft bereits das bedingungslose Grundeinkommen gäbe.

Zunächst die reale Geschichte in Kürze:
Promovierter Biologe, 54, seit 4 Jahren geschieden, 2 Kinder, 25-jährige Berufserfahrung, zuletzt als leitender Angestellter einer Pharmafirma, verliert im September 2006 aufgrund von Umstrukturierungsmaßnahmen seinen Job. Er erhält Lohnfortzahlung bis Mitte 2007 und eine Abfindung von 60 000 Euro. Seitdem er 2002 aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen war, bezahlte er monatlich die Hypotheken in Höhe von rund 1500 Euro sowie 1875 Euro Unterhalt.

Er telefoniert seine zahlreichen Kontakte in der Branche ab, schaltet Suchanzeigen, bewirbt sich direkt oder über Annonce bei Firmen, die im weitesten Sinne etwas mit Pharmazie, Medizin oder Medizintechnik zu tun haben, dann auch bei Drogerien und Handelsketten, Headhuntern, Personalberatern und Zeitarbeitsfirmen, zuletzt hierarchisch und finanziell unter seiner bisherigen Position. Aber für Stellen als einfacher Arzneimittelvertreter oder als Regaleinräumer oder als Aushilfe im Schreibwarengeschäft braucht niemand einen „hoch engagierten Manager“ mit „hoher Reputation im Innen- und Außendienst“, voller „Begeisterungs- und Überzeugungsfähigkeit“, geprägt von „Zielstrebigkeit, Systematik, Verantwortungs- und Kostenbewusstsein“, mit Personal- und Budgetverantwortung bis 23 Millionen Euro, der als „loyaler, kritischer, erfolgsorientierter und selbstbewusster Mitarbeiter“ überzeugt hat, wie es in all den Zeugnissen hieß, die er seinen Bewerbungen beilegte. Von den meisten angeschriebenen Arbeitgebern hört er allerdings gar nichts. Mit 1000 Bewerbungen bringt er es auf sieben Gespräche. Dass er zu alt sei, sagt nur einer – es ist ja verboten jemanden wegen seines Alters auszuschließen.

Sein Gehalt läuft noch bis Mitte 2007. Dann folgen zwölf Monate Arbeitslosengeld I. Er lebt in dieser Zeit von seinen Rücklagen, denn laut Stern ist das Geld vom Arbeitsamt weniger als das, was er an Unterhalt zahlt.

Er nimmt einen Existenzgründerkredit auf und erwirbt eine Lizenz für eine kostenlose Anzeigenzeitung – mit der er scheitert. Nach elf Monaten stellt die Bank den Kredit fällig – er hat jetzt 50 000 Euro Schulden. Sein Vater muss einspringen und den Kredit abzahlen, weil sonst die Bank das Häuschen, in dem der Vater wohnt, das er aber vor Jahren seinen Kindern überschrieben hat, zwangsversteigern lässt.

Dr. M. bezieht jetzt Hartz IV.

Wie wäre dieser Lebensabschnitt des Dr. M. wohl verlaufen, wenn es das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) bereits gegeben hätte?

  1. Vielleicht wäre ihm erst gar nicht gekündigt worden, da viele davon ausgehen, dass mit Einführung des BGE die Löhne sinken würden. Niedrigere Löhne entlasten die Firmen. Eine Umstrukturierung mit flachen Hierarchien zum Zwecke der Kostensenkung wäre möglicherweise gar nicht notwendig gewesen.
  2. Das BGE schützt nicht zwingend vor Entlassung, aber es erhöht die Chancen des Dr. M., wieder einer adäquaten Tätigkeit nachzukommen, da
    • niedrigere Löhne generell zu mehr Beschäftigung führen können
    • das BGE die Strukturen in der Arbeitswelt so verändern kann, dass auch ältere Arbeitskräfte Arbeit bekommen, dass Brüche im Lebenslauf nicht als Makel anhaften, sondern als kreative Pause gesehen werden können
    • sozialer Abstieg weniger stigmatisierend wirken würde.
  3. Mit BGE hätte Dr. M. mehr Zeit gewonnen, sich beraten zu lassen oder eine Bildungsmaßnahme zu ergreifen. Er wäre nicht einem Verwaltungssystem zwangsunterworfen worden, in dem die Beschönigung der Quartalszahlen zur Arbeitslosigkeit wichtiger ist, als die nachhaltige Eingliederung in den Arbeitsmarkt.
  4. Nach der Trennung wäre die Grundsicherung seiner Familie gewährleistet, da ja auch die geschiedene Frau sowie die Kinder das BGE erhalten würden. Die finanzielle Belastung könnte für Dr. M. weitaus geringer sein, wenn die Unterhaltszahlungen durch das BGE entsprechend niedriger wären und seine geschiedene Frau sich an der Zahlung der Hypotheken beteiligen könnte.

Das BGE stellt keine Vollkasko-Versicherung dar, aber es fängt im Falle des Scheiterns auf und mildert die negativen finanziellen und sozialen Folgen. Wer fällt, steht leichter wieder auf.


Zum Autor:
Dr. Joachim Fuchs-Algrim, Dipl.-Agr.Biol., selbständig, ist in der Qualitätskontrolle klinischer Prüfungen von Arzneimitteln tätig. Er lebt mit seiner Familie in Puchheim bei München und ist Mitglied der Initiative Grundeinkommen Amperland.

4 Kommentare

Gabriele Kiel schrieb am 12.08.2010, 07:54 Uhr

Dies ist sicherlich kein Einzelfall. Auch ich befinde mich gerade in einer solchen Abwärtsspirale und zwar ganz rasant.

Ich bin seit 1984 als Reiseleiterin/ Kreuzfahrtleiterin tätig, davon 26 Jahre sehr erfolgreich für amerikanische Firmen. Seit einem Jahr nun arbeite ich für deutsche Firmen und seither kämpfe ich mich durchs Leben.

Es fing bei einem deutschen Flusskreuzfahrt- Veranstalter an, bei dem ich einen Stundenlohn von € 3,12 erhielt, es folgte ein

Vertrag mit einem Subunternehmen eines renommierten deutschen Hochseeschiffes, das mein Honorar erst nach 5 Monaten zahlte und ein weiterer Münchner Flusskreuzfahrt-Veranstalter, für den ich im April/Mai tätig war, der auch bis heute meine Honorarrechnungen nicht beglich.

Für staatliche Unterstützung bin ich (noch) zu stolz und nun kämpfe ich ums Überleben. Anwalts- und vor allem Gerichtskosten kann ich mir nicht leisten. Auf Bewerbungen erhält man in der Regel nicht mal mehr eine Antwort und wenn, dann ist man natürlich überqualifiziert!

Schauen Sie sich mal auf Kreuzfahrtschiffen um: in der Flusskreuzfahrt werden nur noch Osteuropäer eingestellt, ob mit oder ohne Sprachkenntnisse, auf Hochseeschiffen besteht die Crew nur noch aus Philippinen.

Hauptsache billig !

In dieser Welt muss sich endlich etwas bewegen, doch solange sich die Menschen nur noch von den Medien einlullen und manipulieren lassen, wird gar nichts passieren.

Wilhelm Kratzer schrieb am 16.08.2010, 12:51 Uhr

Die Beobachtung, dass Menschen einfache Arbeiten verrichten (bitte wertfrei lesen!), begleitet mich auf Schritt und Tritt. Ich denke, dass jeder Unternehmer sehr wohl für die sozialen Ungerechtigkeiten in seinem Verantwortungsbereich zuständig ist. Tragisch ist nur die Unmöglichkeit, ihn zur Rechenschaft zu ziehen.

Herbert Wilkens schrieb am 04.09.2010, 22:23 Uhr

Ein anderer Fall - ebenfalls exemplarisch:

\"Akademisch, alleinerziehend - arbeitslos\" in Neues Deutschland 4. September 2010

http://www.neues-deutschland.de/artikel/178937.akademisch-alleinerziehend-arbeitslos.html

Bianca Schubert schrieb am 07.10.2010, 22:07 Uhr

Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen könnte eine ganz andere Arbeitswelt entstehen. Eine, die nicht mehr aus gehetzten, überlasteten Arbeitenden auf der einen und gefrusteten Arbeitslosen auf der anderen Seite besteht. Mit einem Grundeinkommen würden wahrscheinlich viel weniger Menschen sich in einem Vollzeitjob um jeden Preis verausgaben, während andere versauern, denn dann macht ein Teilzeitjob viel mehr Sinn. Unsere starren Beschäftigungsregeln könnten aufgebrochen werden, auch zu Gunsten der Unternehmen. Ohne Kündigungsschutz, vielleicht auch ohne festgelegte Wochenarbeitszeit könnte ein Unternehmer aus einem Pool gut erholter und motivierter Angestellter schöpfen und auf den Markt reagieren. Die Arbeitnehmer wären mit dem Polster des Grundeinkommens sicher nicht abgeneigt, nach Bedarf zu arbeiten. Auf der anderen Seite wären sie auch nicht gezwungen, alle Launen des Arbeitgebers zu ertragen, die Firmen müssten sich mehr um gute Arbeitsbedingungen bemühen.

Viele Menschen könnten neben einem befriedigenden Job und einem entsprechenden Einkommen auch viel freie Zeit genießen, statt wie heute nur das eine oder das andere. Das zunehmende Modell der Kombination vieler kleiner Jobs würde an Atraktivität gewinnen, auch für Arbeitnehmer. Der Schritt in die Selbständigkeit wäre auch sehr viel einfacher, weil kein Druck mehr da ist, in kürzester Zeit das komplette Leben durch Gewinn zu decken (ein zwangloser Anschub für eine re-Regionalisierung).

Und die Bildungselite unseres Landes, die vielen prekär oder gar nicht beschäftigten Wissenschaftler an den Universitäten, könnten ihr hohes, oft auch unentgeltliches Engagement endlich ohne die überragende Angst vor dem nächsten Projektende ausleben. Wirklich unabhängige Forschung ohne Festanstellung wäre möglich, auch bräuchten sie nicht mehr als Arbeitslose illegal Lehrveranstaltungen abzuhalten. Das Gesundheitsystem könnte auch profitieren, weil psychische und auch andere Erkrankungen, die durch den hohen Druck in der Wirtschaft entstehen, zurück gedrängt würden.

Familien würden massiv unterstützt, weil sie Zeit und finanzielle Sicherheit bekommen würden, um ihre Kinder in Ruhe aufzuziehen. Da dürfen es dann auch gerne drei statt einem sein.

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