Kritik der Tafeln und Grundeinkommen

Jörg Ackermann 19.01.2012 Druckversion

Der Soziologe und Tafelforscher Prof. Dr. Stefan Selke, von der Hochschule Furtwangen University, übte am 9. Januar 2012 in einem viel beachteten Interview im Nordwest Radio heftige Kritik an den Tafeln und der „Vertafelung“ Deutschlands. In der Radiosendung (Stefan Selke 4, dort ab Minute 5:30) begründet Selke darüber hinaus ausführlich, warum das Grundeinkommen eine gesellschaftspolitische Alternative zur Ausgrenzung von Menschen in unserer Gesellschaft und eine Antwort auf die Krise der Arbeitsgesellschaft ist.

Stefan Selke hielt bereits während der 4. Internationalen Woche des Grundeinkommens in Bremen einen Vortrag zum Thema „Lebensmitteltafeln als Reparaturbetrieb der Gesellschaft? Existenzunterstützende Freiwilligenangebote als Sackgasse der sozialen Frage“. Die anschließende Diskussion drehte sich um die Frage: „Kann das bedingungslose Grundeinkommen ein Ausweg sein?“ Auf dem Video-Kanal Grundeinkommen 1 findet sich dieser Vortrag von Stefan Selke. Außerdem sind dort weitere Videos von Vorträgen während der Woche des Grundeinkommens in Bremen mit Werner Rätz, Ronald Blaschke sowie einem Gottesdienst mit Abendmahl zum Thema „Genug für alle“ zu sehen.

In seinem Vortrag in Bremen setzte sich Stefan Selke ebenfalls kritisch mit den Lebensmitteltafeln und ähnlichen existenzunterstützenden Angeboten in Deutschland auseinander. Die Kritik lautet, dass durch die Tafeln – im Namen der Barmherzigkeit – Armut verstetigt und mit ihnen das Geschäft der privaten Fürsorge-Industrie größer wird. Die Analyse der Tafellandschaft und ihrer Entwicklung zeige, dass die soziale Absicherung vieler Menschen immer mehr aus dem Aufgabenbereich der Gesellschaft bzw. des Staates in den Bereich des Privaten und des Ehrenamts gedrängt wird.

Grundlage der Arbeit von Stefan Selke ist die Frage nach den Chancen und Risiken menschlicher, insbesondere menschenwürdiger Existenz unter den Bedingungen technologischen, medialen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandels. Seine Sozialreportage über die Tafelbewegung, Fast ganz unten, löste einen lebhaften Diskurs über Effekte der Tafelbewegung aus. Dieser führte zu einem Paradigmenwechsel in der öffentlichen Wahrnehmung der Tafeln sowie zu einer umfassenden Kritik an der privatisierten Sozialindustrie. Aktuell arbeitet Stefan Selke am Forschungsprojekt „Tafel-Monitor: Transformation der Lebensmitteltafeln und ähnlicher existenzunterstützender Angebote im institutionellen Spannungsfeld zwischen Angebot und Nachfrage“. Für dieses Projekt wurden auch in Bremen Interviews durchgeführt. Informationen finden sich auf der Website Tafelforum. Wer sich weiter informieren möchte, dem werden auch die kritischen Tafel-Sammelbände empfohlen.

4 Kommentare

Bertram schrieb am 19.01.2012, 18:02 Uhr

Das sind wichtige kritische Ansätze und Argumentationen. Gerade für das BGE. Tafeln sind logisch und systemisch der sich \"bürgerlich-sozial\" gebende, verlängerte Arm der Hartz-IV-Abschreckungspolitik. Die Wohlfahrtsverbände stecken selbst knietief in dieser Systematik. Sie profitieren einerseits davon, andererseits kritisieren sie es. Ihre Kritik an diesem pittoresken Verelendungsprogramm bleibt zaghaft und meist in der gleichen Systematik verhaftet.

Ich wünschte, sie würden die Kritik von Selke oder auch Grottian (http://www.nachdenkseiten.de/?p=5710) ernst nehmen und stärker auf das BGE zugehen.

Herbert Wilkens schrieb am 19.01.2012, 22:16 Uhr

Ich arbeite in einer Tafelorganisation mit, die in einer Kirchengemeinde in meiner Nachbarschaft organisiert ist (\"Laib und Seele\"). Die allgemeine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die zu den Tafeln geführt haben, ist völlig richtig. Also müssen wir für gesellschaftliche Veränderungen kämpfen. Gleichzeitig kann ich nicht die Augen vor der unsinnigen Verschwendung von Nahrungsmitteln verschließen - auch tadellos Essbares wird in den Müll gekippt, wenn wir es nicht einsammeln. Erst recht kann ich angesichts der Hilfebedürftigkeit der vielen Menschen, die unser Angebot gerne annehmen, nicht warten, bis unsere gesellschaftlichen Ziele erreicht sind. Also werde ich an der kleinteiligen Basishilfe ebenso weiter arbeiten wie an dem sozialen Wandel in unserem Land.

AhPeh schrieb am 20.01.2012, 10:07 Uhr

Über die Tafeln in Deutschland

Eine Polemik

Sind die Tafeln ein Ersatzdienstleister für den Sozialstaat?

Ja, sie sind Teil der neoliberalen Agenda, die darauf abzielt, den Staat zurückzudrängen und Gemeinschaftsaufgaben zu privatisieren. Die Tafeln sind das Symptom einer Klassengesellschaft, in der die Diktatur der Vermögensbesitzer herrscht. Sie sind ihr systemischer Bestandteil und tragen zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse bei. Deswegen werden die Tafeln vom politischen Establishment so hofiert.

Die Tafeln sind noch mehr. Sie sind ideale Projektionsflächen für selbsterklärte Gutmenschen, die das schlechte Gewissen des Nichtbetroffenseins plagt. Die Tafeln bieten einen modernen Ablasshandel anstelle der Beichte oder der wohltätigen Spende an: \"Mach mit!\", ist die verlockende Botschaft. Ein idealer Spielplatz für Sozialtümelei. Auch für Unternehmen sind die Tafeln wie geschaffen. Eine kleine Spende hier, eine kleine Spende da, schon ist der ehrenwerte Imagemantel gestrickt: \"Wir übernehmen gesellschaftliche Verantwortung\". Billiger kann das keine PR-Agentur machen.

Und schließlich sind die Tafeln ein Geschäft. Ein Geschäft vor allem für die teilnehmende Wirtschaft. Als Logistikdienstleister sorgen die Tafeln für die kostengünstige und sozialverträgliche Entsorgung überschüssiger Warenbestände, die ansonsten auf der Müllhalde landen würden. Auf Kosten von Überproduktion und Ressourcenverschwendung sichern sich die Unternehmen so ihre Marktanteile.

Was haben die Bedürftigen davon? Zunächst einmal ein wenig Linderung ihrer akuten Not - sofern die Tafeln liefern können. Doch der Preis ist die Abhängigkeit. Die Abhängigkeit von einem neuen System der Armenfürsorge, in dem die Betroffenen überhaupt keine verbrieften Ansprüche mehr haben. Aus Anspruchsberechtigten werden Almosenempfänger.

Peter Scharl schrieb am 22.01.2012, 10:30 Uhr

Ich unterstütze den Kommentar von Herbert Wilkens total! Es geht NICHT um ENTWEDER / ODER! Wie fast immer, ist wohl \"Sowohl / Als Auch\" angesagt. Wir müssen auf allen Ebenen und bei allen unterschiedlichen Modellen - das BGE immer mehr am \"Kochen\" halten UND auch den aktuell \"GeHa(r)tz-4-teilten\" mit den Tafeln helfen!

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