Ineffektiv und politisch gefährlich: bedürftigkeitsgeprüfte Sozialtransfers zur vorgeblichen Sicherung der Existenz und Teilhabe

Ronald Blaschke 20.01.2023 Druckversion

Die Debatte um das sogenannte Bürgergeld und die Weiterentwicklung von Hartz IV zu Hartz V [i] zeigt, dass die Mindestabsicherung der grundlegenden Existenz und Teilhabe von Menschen mittels bedürftigkeitsgeprüfter – also mittels einkommens- und vermögensgeprüfter – Sozialtransfers ineffektiv und politisch gefährlich ist. Denn bedürftigkeitsgeprüfte Sozialtransfers behindern die Beseitigung von Armut und die Existenz- und Teilhabesicherung. Sie treiben darüber hinaus die Spaltung der Gesellschaft voran. Diese Thesen sollen im Folgenden begründet werden.

1. Was war passiert?

Die Regierungskoalition legte dem Deutschen Bundestag (Gesetzgeber) einen Gesetzentwurf zum Beschluss vor. Gegenstand waren Änderungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (Hartz IV) und anderer Gesetze, wie zum Beispiel des Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (Sozialhilfe). Der Bundestag beschloss das Gesetz mit der Mehrheit der Fraktionen der Regierungskoalition aus SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP. Es beinhaltete u. a.:

– eine Inflationsanpassung der Regelbedarfe (also keine Kaufkraftstärkung!),

– eine halbjährliche sogenannte Vertrauenszeit, in der Sanktionen „nur“ bis zu 10 Prozent des Regelbedarfs möglich waren,

– eine Absenkung späterer Sanktionierungsmöglichkeiten auf „nur“ 30 Prozent,

– die Erhöhung des Vermögensfreibetrags auf 60.000 Euro und

– die Übernahme tatsächlicher Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) in einer sogenannten Karenzzeit von zwei Jahren.

An den bestehenden Bedarfsgemeinschaftsregelungen (Anrechnung von Einkommen und Vermögen anderer im Haushalt Lebender) sollte nichts geändert werden.

Alle bekannten Merkmale der Grundsicherung blieben bei dieser Weiterentwicklung von Hartz IV zu Hartz V unangetastet  – das sogenannte Bürgergeld hat also nichts mit einem Grundeinkommen oder einen Schritt in diese Richtung zu tun: Die veränderte Grundsicherung sichert nicht die Existenz und Teilhabe, ist nicht individuell garantiert und ist mit einem Zwang zur Arbeit, mit einer Bedürftigkeitsprüfung und der Ausgrenzung von Asylbewerber*innen und EU-Bürger*innen (keinen Zugang zu den Hartz-V-Leistungen) verbunden.

Ungeachtet dessen setzte schon vor dem Beschluss eine Kampagne von rechts (AfD) und rechtskonservativ (CDU/CSU) ein, mit Beihilfe von politisch nahestehenden Medien. Behauptet wurde Folgendes:

Erstens: Hartz V, das sogenannte Bürgergeld, wäre ein Schritt in Richtung bedingungsloses Grundeinkommen und sei damit ein Unding. Dies ist natürlich Unfug, denn durch Hartz V wird kein einziges Merkmal eines Grundeinkommens erfüllt.

Zweitens: Ein*e Hartz-V-Beziehende hätte mit dem erhöhten Regelbedarf netto genauso viel (oder sogar mehr) Geld zur Verfügung wie ein*e Erwerbstätige im unteren Einkommensbereich.

Die zweite Behauptung offenbarte die Stoßrichtung der politischen Kampagne: Das für die Bestimmung von Grundsicherungsleistungen seit 2011 rechtlich nicht mehr geltende Lohnabstandsgebot [ii] sollte nun in populistisch-manipulativer Weise gegen das „Bürgergeld-Gesetz“ der Ampelkoalition gewendet werden. Insbesondere von CDU/CSU wurden dazu falsche Berechnungen verbreitet. Sie konnten sich des „Volkszorns“ und der medialen Schlagzeilen sicher sein: Es kann doch nicht sein, dass ein*e hart Arbeitende*r nur so viel in der Tasche hat, wie jemand, der nichts tut. Mit dieser Argumentationslinie wird in politisch gefährlicher Weise die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben: Arme Erwerbslose werden gegen Erwerbstätige mit geringem Einkommen ausgespielt.

Dieses spaltende Lohnabstands-Argumentationsmuster ist nicht neu. Die herrschende Volkswirtschaftslehre machte auch schon regen Gebrauch davon. Dies verdeutlicht folgende Aussage von Viktor Steiner (Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Berlin, ehemaliger Leiter der Abteilung Staat und Finanzwissenschaft am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung), die er in der Regelbedarfsfestsetzungsdebatte nach dem Regelsatz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts traf: „Im Prinzip ist es einfach ein gesellschaftliches Werturteil, wo man dieses Niveau [des Regelbedarfs, R. B.] festsetzt. Es gibt keine objektive Grenze, auch nicht auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Am Ende des Tages wird man immer eine Entscheidung, eine politische Entscheidung treffen müssen, was man eben Hartz-IV-Empfängern da zugestehen möchte. Allerdings, muss man aus ökonomischer Sicht sagen, kann eben der sogenannte Lohnabstand – das ist das, was ein Hartz-IV-Empfänger netto erhält im Vergleich zu dem, was ein Geringverdiener netto herausbekommt – nicht zu klein werden oder gar negativ werden. Wir haben heutzutage ja schon die Situation bei größeren Haushalten, dass Geringverdiener ein geringeres Nettoeinkommen haben in vielen Fällen als Haushalte von Hartz-IV-Beziehern. Und hier jetzt die Hartz-IV-Sätze weiter aufzustocken, wird eben dazu führen, dass es für Geringverdiener, speziell in größeren Haushalten, wo nur einer verdient, finanziell nicht mehr attraktiv sein wird zu arbeiten. Sprich: Er könnte sich finanziell besserstellen, wenn er gar nicht arbeitet und Hartz IV bezieht.“ (Deutschlandfunk, 21. September 2010, Hervorhebung R. B.) Dieses Zitat zeigt, was von den Regelsatzbestimmungen zu halten ist: Letztlich sind sie der Versuch eine bestimmte Vorstellung der Leistungsgerechtigkeit und nicht die Bedarfsgerechtigkeit politisch umzusetzen. Regelsatzbestimmungen sind letztlich politisch bzw. ideologisch begründet (vgl. dazu auch Blaschke 2021).

Diese politische und ideologische Dimension erkannte auch Johannes Steffen, ehemaliger Mitarbeiter der Arbeitnehmerkammer Bremen, nicht. Er meinte noch vor dem Fall des gesetzlich gebotenen Lohnabstands: „Die Forderungen nach einer deutlichen Erhöhung des Eck-Regelsatzes der Sozialhilfe kollidieren sehr schnell mit dem geltenden Lohnabstandsgebot – dies gilt hauptsächlich für Arbeiterverdienste in den neuen Bundesländern. Will man Regelsätze erreichen, die ein Leben jenseits materieller Armut ermöglichen, so erfordert dies auch eine Änderung der gesetzlichen Lohnabstandsnorm.“ (Steffen 3/2006, S. 16) Steffen hatte aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Das Lohnabstandsargument und die gezielte Spaltung der Gesellschaft leben unverdrossen weiter, auch nach der Abschaffung des gesetzlichen Lohnabstandsgebots. Das Lohnabstandsargument wird immer wieder genutzt werden, um Grundsicherungsbeziehende und Erwerbstätige (mit geringem Einkommen) gegeneinander auszuspielen. Vorrangiges Ziel ist, die Höhe der Grundsicherung so gering wie möglich zu halten und damit die niedrigen Erwerbseinkommen zu festigen. Politisch gefährlich daran ist auch, dass das Lohnabstandsargument immer wieder genutzt wird und werden kann, um die Grundsicherung so unbehaglich wie möglich zu gestalten. Das war letztlich auch das Ziel der jüngsten Lohnabstandskampagne der CSU/CDU – denn die der Inflation angepasste Erhöhung der Regelbedarfe konnte die CDU/CSU gar nicht verhindern. Sie ist nämlich verfassungsrechtlich vorgegeben [iii]. Das heißt auch: Sie ist keine Wohltat der jetzigen Bundesregierung, sondern eine grundrechtlich vorgegebene Erhöhung. Die CDU/CSU hat nach dem Beschluss im Deutschen Bundestag im Bundesrat die Zustimmung zum Gesetz vereitelt. Mit Hilfe des dadurch erzwungenen Vermittlungsverfahrens zwischen Bundestag und Bundesrat hat sie durchgesetzt, dass bei Hartz V die „Vertrauenszeit“ bei Sanktionen und die Übernahme tatsächlicher Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) gekippt, die Vermögensfreibeträge gesenkt und Karenzzeit gekürzt wurden. Hartz V sollte so unbehaglich wie möglich sein – das war das eigentliche Ziel der Lohnabstandskampagne (siehe dazu auch die Powerpoint zum „Bürgergeld“).

2. Zusammenhang von Lohnabstands-Normativ und bedürftigkeitsgeprüften Sozialtransfers zur Sicherung der Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe

Ich möchte im Folgenden die These begründen, dass die Zweiteilung der Existenz- und Teilhabesicherung einerseits durch Löhne/Erwerbseinkommen, andererseits durch bedürftigkeitsgeprüfte Transfers zur Sicherung der Existenz und Teilhabe mit Hilfe des Lohnabstandsarguments stets dazu führen wird, dass die genannten bedürftigkeitsgeprüften Transfers niedrig, repressiv und unbehaglich ausgestaltet sein werden. Denn ungeachtet der manipulierten Berechnungen, die zum Lohnabstand in der jüngsten Debatte über Hartz V von rechten und (rechts)konservativen zu Hartz V vorgelegt worden sind, besteht ein reales grundsätzliches Problem: Der Abstand zwischen dem Netto bedürftigkeitsgeprüfter Sozialtransfers zur vorgeblichen Sicherung der Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe, ob nun Grundsicherung oder Mindestsicherung genannt, und dem Nettoeinkommen von geringverdienenden Vollzeitbeschäftigten ist äußerst gering. [iv] Das soll beispielhaft anhand eines Vergleichs des Nettoeinkommens einer Hartz-V-Beziehenden und des Nettoeinkommens einer Vollzeitbeschäftigten mit Mindestlohn veranschaulicht werden.

Beispiel: Alleinstehende Hartz-V-Beziehende, ohne weitere Einkommen

Eine Hartz-V-Beziehende (1) mit durchschnittlichen als angemessen anerkannten Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) hat im Jahr 2023 im Monat 927 Euro netto zu Verfügung (502 Euro Regelbedarf im Jahr 2023 plus 425 Euro durchschnittlich als angemessen anerkannten Kosten der Unterkunft und Heizung im August 2022 [v], also vor den Heizkostensteigerungen).

Eine Hartz-V-Beziehende (2) mit höheren (aber bei weitem nicht den höchsten der regional unterschiedlich als angemessen anerkannten) Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) hat im Jahr 2023 monatlich 1.102 Euro netto zur Verfügung (502 Euro Regelbedarf plus 600 Euro Kosten der Unterkunft und Heizung).

Eine Vollzeitbeschäftigte (170 Stunden Lohnarbeit monatlich) mit einem Mindestlohn von 12 Euro brutto die Stunde hat im Jahr 2023 ca. 1.488 Euro netto (2.040 Euro brutto) monatlich zur Verfügung.

Im Vergleich zur erstgenannten Hartz-V-Beziehenden (1) hat die Vollzeitbeschäftigte also 561 Euro mehr. Im Vergleich zur zweitgenannten Hartz-V-Beziehenden (2) wären das lediglich 386 Euro mehr als die „nicht arbeitende“ Hartz-V-Beziehende. Ein Lohnabstand ist also gegeben. Aber wäre er ausreichend, um der (durch Rechte und Rechtskonservative politisch und medial forcierten) Spaltung der Gesellschaft wirksam zu entgegnen, diese stark einzudämmen? Nein. Dabei darf man auch nicht vergessen: Es kommen auf der Seite der Hartz-V-Beziehenden noch die Befreiung von der Rundfunkgebühr und Vergünstigungen (Sozialtickets, Zuzahlungsbefreiungen usw.) hinzu. Der Vollzeitbeschäftigten mit Mindestlohn stehen diese Befreiungen bzw. Vergünstigungen nicht zu. Darüber hinaus: Wenn – wie zu Recht gefordert – die Sanktionen für Grundsicherungsbeziehende abgeschafft, höhere Vermögensfreibeträge und die Übernahme der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung eingeführt werden sollen – also eine repressionsfreie und etwas komfortablere Grundsicherung geschaffen werden soll, würde dies die Lohnabstandsdebatte noch weiter befeuern. Das politisch und medial befeuerte Ausspielen von Transferbeziehenden und Erwerbstätigen (mit geringem Einkommen) würde befeuert angesichts einer weniger repressiven, einer etwas besseren Grundsicherung. Die Spaltung der Gesellschaft schritte so mit allen bekannten Konsequenzen noch mehr voran. Wie das selbst beim Versuch minimaler Verbesserungen der Grundsicherungsleistungen funktioniert, haben uns auch die letzten Wochen gezeigt.

Bisher habe ich den Lohnabstand nur im Vergleich mit einer Vollzeitbeschäftigten aufgezeigt. Dieser würde sich noch weiter als im Beispiel verringern, wenn der Vergleich mit Teilzeitbeschäftigten mit Mindestlohn oder geringen Erwerbseinkommen erfolgen würde. Das Gegenargument wäre: Diese Erwerbstätigen hätten wegen des geringen Erwerbseinkommens einen Anspruch auf Aufstockung durch Hartz V. Das würde doch den Lohnabstand wieder erhöhen. Doch fragt sich: Werden sich diese Erwerbstätigen in die stigmatisierende und diskriminierende Hartz-V-Bürokratie hineinbegeben und tatsächlich ihren Aufstockungsbetrag einfordern? Es darf nicht vergessen werden, dass bis zu 50 Prozent der Anspruchsberechtigten auf Hartz-IV-Leistungen ihren Anspruch nicht geltend machten. Sehr wahrscheinlich ist, dass es sich dabei insbesondere um potentielle Aufstocker*innen handelte, die eben wegen des stigmatisierenden, diskriminierenden und auch äußerst bürokratischen Grundsicherungssystems (vgl. Blaschke 2018) ihren Aufstockungsbetrag nicht einforderten. Alles das dürfte sich bei Hartz V nicht wesentlich ändern. Der durch eine Nichtinanspruchnahme einer Aufstockung extrem geringe Lohnabstand wiegt dann vor dem Hintergrund der oben genannten Zahlungsbefreiungen und Vergünstigungen für Hartz-V-Beziehende umso schwerer.

3. Bedürftigkeitsgeprüfte Transfersysteme zur Sicherung der Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe: Ineffektiv und politisch gefährlich

Bedürftigkeitsgeprüfte Transfersysteme (bestehende Grundsicherungen, Mindestsicherung) zur Sicherung der Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe sind aus zwei Gründen ineffektiv und politisch gefährlich. Zum einen (a) behindern sie die tatsächliche Absicherung der Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe sowie die Beseitigung von Armut. Zum anderen (b) leisten sie einer weiteren Spaltung der Gesellschaft Vorschub.

Zu a: Wenn bedürftigkeitsgeprüfte Transfers die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe sichern sollen, sind sie dafür hochgradig ungeeignet. Sie erreichen dieses Ziel nicht. Denn erstens verursachen sie aufgrund ihres diskriminierenden und stigmatisierenden Charakters die massenhafte Nichtinanspruchnahme des Sozialtransfers. Sie würden aus gleichem Grund selbst dann, wenn sie eine Einkommensarmut verhindernde Höhe hätten (im Jahr 2023 also über 1.300 Euro [vi]), Einkommensarmut nicht beseitigen. Zweitens können bedürftigkeitsgeprüfte Sozialtransfers Armut nicht verhindern, weil wegen des „Lohnabstandsgebotes“ eine Erhöhung der Grund-/Mindestsicherung auf ein vor Einkommensarmut schützendes Niveau auf massiven, auch bewusst geschürten, gesellschaftlichen Widerstand treffen und diese Erhöhung unmöglich machen würde [vii]. Dies sei mit Folgendem verdeutlicht: Die Parität fordert eine Erhöhung des Regelbedarfs bei den Grundsicherungen – auf mindestens 725 Euro (andere Wohlfahrtsverbände und DIE LINKE eine etwas geringere Erhöhung). Eine von der Parität beauftragte Umfrage  ergab sogar, dass der Regelbedarf 811 Euro betragen müsste. Rechnen wir 725 Euro Regelbedarf plus die 600 Euro Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) zusammen, ergeben das 1.325 Euro netto (bzw. mit den 811 Euro sogar 1.411 Euro). Der Lohnabstand zum Einkommen einer Vollzeitbeschäftigten mit Mindestlohn von 12 Euro betrüge dann nur noch 163 Euro (bzw. mit dem Regelbedarf von 811 Euro nur noch 77 Euro. Es ist ein Leichtes, sich den politischen Widerstand von Rechten und Rechtskonservativen und einem Großteil der Bevölkerung und entsprechende mediale Kampagnen vorzustellen.

Zu b: Der Vergleich zwischen dem Nettoeinkommen der Grundsicherungs-/ Mindestsicherungsbeziehenden und Nettoeinkommen von Mindestlohnbeziehenden (bzw. Erwerbstätigen mit geringen Erwerbseinkommen) würde von rechten und (rechts)konservativen Kreisen stets dazu genutzt werden, beide Gruppen gegeneinander auszuspielen: Sozialtransferbeziehende und Menschen mit geringen Erwerbseinkommen, die Minderheit der „Nichtarbeitenden“ gegen die Mehrheit der „hart Arbeitenden“. Das Prinzip „Teile und herrsche“ und das auf Lohnarbeit fixierte Leistungsprinzip würden verfestigt – und damit die Spaltung der Gesellschaft. Das erzeugt politischen Druck auf die Ausgestaltungen und damit Wirkungen von bedürftigkeitsgeprüften Sozialtransfers (Armut und Ausgrenzung per Gesetz, repressiv, stigmatisierend und diskriminierend, aus dem Leistungsbezug ausgrenzend). Dies wiederum hat eine Rückwirkung auf die Höhe von Erwerbseinkommen im unteren Einkommensbereich (Verfestigung von Niedrigeinkommen). Denn niedrige und repressive Sozialtransfers üben einen negativen Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen aus.

Das Grundrecht auf eine Absicherung der materiellen Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe wird durch bedürftigkeitsgeprüfte Transfersysteme, die dieses Grundrecht eigentlich umsetzen sollen, ausgehebelt. Bedürftigkeitsgeprüfte Transfersysteme (bestehende Grundsicherungen, Mindestsicherung) sind nicht geeignet, dieses Grundrecht zu erfüllen. Sie sind, was die Erreichung des angestrebten Ziels betrifft (Absicherung der materiellen Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe, Bekämpfung bzw. Beseitigung von Armut), äußerst ineffektiv.

4. Grundeinkommen: Ein höchst effektiver Transfer, der die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe sichert, Armut beseitigt und die Spaltung der Gesellschaft minimiert bzw. beseitigt [viii]

Im Unterschied zu bedürftigkeitsgeprüften Sozialtransfers, die die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe sichern sollen, haben Grundeinkommen den großen Vorteil, dass ein Lohnabstand im bedeutend höheren Maße gesichert ist – denn auf den universellen Transfer haben alle einen Anspruch. Das erzielte Nettoerwerbseinkommen kommt zum Grundeinkommen hinzu [ix].

Ein Beispiel: Alleinstehende, ohne weitere Einkommen (exemplarisch anhand des Grundeinkommenskonzepts der Bundesarbeitsgemeinschaft in und bei der Partei DIE LINKE dargestellt).

Eine Grundeinkommensbeziehende hätte im Jahr 2023 1.350 Euro netto monatlich zur Verfügung [x].

Eine Vollzeiterwerbstätige, die 12 Euro brutto Mindestlohn erhält, hätte ein Grundeinkommen von 1.350 Euro und ein Nettoerwerbseinkommen von 969 Euro zu Verfügung, also gesamt monatlich 2.319 Euro netto. Damit hätte sie mindestens 969 Euro netto mehr als diejenige, die nur das Grundeinkommen zu Verfügung hat.

Der Lohnabstand beliefe sich also bei einem System mit Grundeinkommen auf fast bzw. weit über das Doppelte dessen, was eine Vollzeiterwerbstätige mit 12 Euro Mindestlohn mehr als eine Grundsicherungsbeziehende hat (969 Euro gegenüber 561 Euro bzw. 386 Euro) [xi].

In Grundeinkommenskonzepten, in denen zur Finanzierung des Grundeinkommens geringere Abgaben auf Erwerbseinkommen als im Konzept der BAG Grundeinkommen DIE LINKE herangezogen würden (oder gar keine Abgaben auf Erwerbseinkommen zur Finanzierung des Grundeinkommens), wäre der Lohnabstand noch größer. Aber schon dieses Beispiel zeigt, dass ein Grundeinkommen einen viel größeren Lohnabstand ermöglicht – weil eben, anders als bei Grund- bzw. Mindestsicherungen, auf das Grundeinkommen alle einen Anspruch haben und das Erwerbseinkommen zum Grundeinkommen hinzukommt. Das heißt erstens, dass die Nichtinanspruchnahme des Transfers faktisch beseitigt wird, und zweitens, dass die ausreichende Höhe (Existenz- und Teilhabesicherung, Beseitigung der Einkommensarmut) selbst im Interesse der Erwerbstätigen liegt, da deren gesamtes Nettoeinkommen mit einem höheren Grundeinkommen ebenfalls steigt; ganz zu schweigen davon, dass ein Grundeinkommen die Verhandlungsmacht der Lohnabhängigen bezüglich der Lohnarbeitsbedingungen stärkt. Der Widerstand gegen ein auskömmliches Grundeinkommen und die Möglichkeit der Spaltung der Gesellschaft wären damit erheblich minimiert bzw. beseitigt. Dies umso mehr, desto weniger das Grundeinkommen über Abgaben auf Erwerbseinkommen teilfinanziert würde, weil selbst ein hohes Grundeinkommen dann nicht das Nettoerwerbseinkommen der Erwerbstätigen, auch nicht das derjenigen mit geringem Erwerbseinkommen, durch Grundeinkommensabgaben schmälern würde. Außerdem würde ein Grundeinkommen das auf Lohnarbeit fixierte Leistungsprinzip schwächen, dafür Arbeiten und Leistungen jenseits der Lohnarbeit ermöglichen und anerkennen.

5. Die Vorteile und dreifache Überlegenheit universeller, nicht zielgerichteter Transfers gegenüber bedürftigkeitsgeprüften Sozialtransfers

Der vermeintliche Vorteil, den ein bedürftigkeitsprüfendes Transfersystem zur Sicherung der Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe haben soll – nämlich der zielgerichtete Einsatz mithilfe der Bedürftigkeitsprüfung (Targeting) – ist in Wahrheit ein riesengroßer Nachteil gegenüber einem universellen Transfersystem. Das ist ein Transfersystem wie das Grundeinkommen, dass eben nicht zielgerichtet im Sinne einer bedürftigkeitsprüfenden Grundsicherung ist, auf dessen Leistungen also alle einen Anspruch haben.

David Brady, der die Forschungsprofessur Inequality und Social Policy am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung innehat und an der University of California (Riverside) Professor und Direktor der Blum Initiative on Global and Regional Poverty ist, macht dazu folgende grundsätzliche Feststellung: „Ländervergleiche belegen, dass die Armut in Gesellschaften mit großzügiger Sozialpolitik niedriger ist. Außerdem fördern universelle Ansätze den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Umfragen zeigen, dass in Ländern mit starkem Targeting die Unterstützung in der Bevölkerung für die staatliche Umverteilung deutlich geringer ist. Targeting stigmatisiert bedürftige Menschen, spaltet die Mittelschicht und treibt einen Keil zwischen ärmere und wohlhabendere Bevölkerungsteile. Dies erschwert gleichzeitig den politischen Konsens für sozialpolitische Programme. Dagegen zeigen sich in universellen Wohlfahrtssystemen Verstärkungseffekte: Die größere öffentliche Unterstützung ermöglicht der Politik mehr Spielräume für großzügige Sozialleistungen und verfestigt so den universellen Charakter des Systems.“ (Brady 2020, S. 12)

Von Vorteil ist ein universeller Transfer, ein Grundeinkommen, also nicht nur wegen der Beförderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Verminderung/Beseitigung der Spaltung der Gesellschaft. Ein universelles Transfersystem kommt darüber hinaus äußerst wirksam den Armen und Ausgegrenzten zugute. Denn ein Grundeinkommen grenzt eben nicht aus dem Leistungsbezug aus – eine durch Diskriminierung, Stigmatisierung und starke Bürokratie bewirkte Nichtinanspruchnahme wird vermieden. Ein Grundeinkommen kann auch ausreichend, sogar großzügig und komfortabel ausgestaltet sein – ohne dass es zur Spaltung der Gesellschaft beiträgt – weil alle einen Anspruch darauf haben. Dazu noch einmal ein Zitat von David Brady: „Universelle sozialpolitische Maßnahmen haben klare Vorteile gegenüber dem Targeting und sind wirksamer bei der Armutsbekämpfung – weil sie mehr Ressourcen an bedürftige Menschen verteilen, den gesellschaftlichen Konsens darüber fördern und damit den politischen Auftrag zur Armutsbekämpfung stärken.“ (ebenda)

Zusammengefasst werden kann: Ein Grundeinkommen ist in puncto Effektivität der Grund- bzw. Mindestsicherung dreimal überlegen: Ein universelles System erreicht erstens alle Berechtigten – es gibt keine Ausgrenzung aus dem Transferbezug. Es ermöglicht zweitens eine die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe sichernde und Armut beseitigende Höhe. Und es stärkt drittens den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine Grund- bzw. Mindestsicherung dagegen grenzt erstens massenhaft Berechtigte aus dem Leistungsbezug aus, kann zweitens keine die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe und Armut beseitigende Höhe erreichen und spaltet drittens die Gesellschaft.

Es scheint paradox: nicht zielgerichtete, universelle Transfersysteme sind viel zielgerichteter und effektiver für Arme und Ausgegrenzte als zielgerichtete Systeme. Dieser Schein löst sich auf: Gerade weil universelle Transfersysteme für alle zugänglich sind, sind sie diskriminierungs- und stigmatisierungsfrei, unbürokratisch, und den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichernd. Gerade deswegen können sie nachhaltig, wirkungsvoll und zielgerichtet die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe sichern und Armut bekämpfen. Sie heben nämlich die Nichtinanspruchnahme auf, können tatsächlich existenz- und teilhabesichernd ausgestaltet werden, und stärken den Zusammenhalt.

Das trifft übrigens für alle universellen Sozialsysteme zu, nicht nur für das Grundeinkommen. Dies gilt auch für gebührenfrei zugängliche öffentliche und soziale Infrastruktur und Dienstleistungen, wie zum Beispiel öffentliche Bildungs- und Mobilitätssysteme und das Gesundheitssystem, wie zum Beispiel organisiert im Rahmen einer Bürger*innenversicherung. Diese universellen Systeme können effektiv ihre Ziele erreichen, allen Menschen ein würdevolles Leben mit ausreichender Existenz- und Teilhabesicherung und ohne Armut und Ausgrenzung ermöglichen sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.

6. Universelle Sozialsysteme und Targeting zur Sicherung von Sonderbedarfen

Abschließend sei verdeutlicht, dass ein bestimmtes Targeting das Universelle gut ergänzt. Das Targeting ist hier allerdings keine Bedürftigkeitsprüfung, also eine sozialadministrative Einkommens- und Vermögensüberprüfung. Stattdessen zielt es auf die Befriedigung gesonderter medizinischer, sozialer oder monetärer Bedarfe, zum Beispiel im Krankheitsfall oder im Fall einer Behinderung. Hier meint Targeting die Zielgerichtetheit im Sinne von Sonderbedarfen aufgrund gesonderter Lebenslagen und -situationen.

Es gilt: Gleiches für Gleiche, das meint, Gleiches für alle Menschen, da alle gleich in Würde und Freiheit leben können sollen, einfach weil sie Mensch sind. Denn: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Und es gilt zugleich: Ungleiches für Ungleiche, das meint, ungleiche bzw. gesonderte Absicherungen und Unterstützungen für ungleiche, gesonderte Lebenslagen und -situationen.

 

[i] Da Hartz IV nur im geringen Maße verändert und die Grundprinzipien dieser Grundsicherung aber beibehalten worden sind, kann mit Fug und Recht von Hartz V gesprochen werden. Mit dem Begriff „Bürgergeld“ wird lediglich der Versuch unternommen, alten Wein in einem neuen Schlauch zu verkaufen.

[ii] Vgl. das gesetzliche Gebot des Lohnabstands für die Bestimmung der Höhe des Regelbedarfs im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (§ 28) (die dann auch für das Zweite Buch Sozialgesetzbuch galt) mit der ab dem 1. Januar 2011 geltenden Regelung ohne Lohnabstandsgebot.

[iii] Laut Bundesverfassungsgericht ist Folgendes die Pflicht des Gesetzgebers: „Der Gesetzgeber hat […] Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht.“ (Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010, RZ 140)

[iv] Dies gilt erst recht von Teilzeitbeschäftigten mit geringem Stundenlohn.

[v] Vgl. Bundesagentur für Arbeit: Wohn- und Kostensituation SGB II (Monatszahlen), August 2022, veröffentlicht am 12.12.2022.

[vi] Vgl. die Armutsrisikogrenze im Einkommensjahr 2020 (1.251 Euro) nach EU-SILC. Im Jahr 2022 wären das weit über 1.300 Euro.

[vii] Auch eine mit der Erhöhung der Grund-/Mindestsicherung verbundene Erhöhung des Freibetrages der Einkommensteuer würde einen dadurch geringer werdenden Lohnabstand zwischen erhöhter Grund-/Mindestsicherung und Mindestlohn nicht verhindern.

[viii] Im Folgenden vgl. auch Blaschke 2022.

[ix] Eine Ausnahme bildet das substitutive Grundeinkommen nach dem Konzept von Götz Werner (vgl. Modellübersicht). Das Grundeinkommen ersetzt das Erwerbseinkommen bis zur Höhe des Grundeinkommens. Wenn also das Grundeinkommen 1.350 Euro betragen würde, und der Mindestlohn einer Vollzeitbeschäftigten netto 1.488 Euro, würde der Lohnabstand zwischen einer nur das Grundeinkommen Beziehenden (ohne weitere Einkommen) und einer Vollzeitbeschäftigten mit Mindestlohn nur 138 Euro betragen. Auch wenn die Einkommensteuer in Höhe von 133 Euro entfallen sollte (wegen der Finanzierung durch die Konsumsteuer gemäß dem Konzept von Götz Werner) würde der Lohnabstand nur 271 Euro betragen, wäre also immer noch bedeutend geringer als in den oben aufgeführten Vergleichen zwischen Hartz V und Mindestlohn.

[x] Die Höhe des Grundeinkommens für das Jahr 2021 gemäß dem BGE-Konzept der BAG Grundeinkommen in und bei der Partei DIE LINKE beträgt laut E-Mail-Auskunft des Sprechers der BAG, Stefan Wolf, 1.320 Euro. Im Jahr 2023 ist das BGE höher zu veranschlagen (annähernd 1.400 Euro). Diese Höhe ist aber derzeit nicht genau zu beziffern. Deswegen wurde für die Beispielrechnung die Höhe von 1.350 Euro zugrunde gelegt.

[xi] Die 12 Euro Mindestlohn werden nur zum Vergleich mit den anderen Rechnungen in diesem Beitrag veranschlagt. Das BGE-Konzept der BAG Grundeinkommen in und bei der Partei DIE LINKE sah für das Jahr 2017 einen Mindestlohn von 13 Euro vor. Mit dem 13 Euro Mindestlohn aus dem Jahre 2017 würde sich der Lohnabstand gegenüber dem Rechenbeispiel vergrößern – Netto gemäß Mindestlohn 13 Euro = 1.050 Euro = Lohnabstand. Im Jahr 2023 wäre der Mindestlohn noch höher zu veranschlagen, was einen noch höheren Lohnabstand zu Folge hätte.

Ein Kommentar

Wolfgang Kopf schrieb am 20.01.2023, 19:45 Uhr

Hallo Ronald, hallo BGE-Mitwirkende -

diese kritische Expertise bedürftigkeitsgeprüfter \"Bürgergeld\"-Angebote ist Gold wert, weil selbst wir BGEler hier fast für die Angebote geworben hätten. Vielen Dank und weiter so - Wolfgang Kopf BI BGE Nienburg/Weser

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