Grundeinkommen: Bedarfsgerechtigkeit ohne Bedürftigkeitsprüfung

Ronald Blaschke 21.07.2023 Druckversion

Das hat wohl jede Grundeinkommensbefürworterin und jeder Grundeinkommensbefürworter schon einmal gehört: Die Reicheren brauchen doch gar kein Grundeinkommen. Sie haben doch so schon genug, eigentlich zu viel. Und schon ist die Forderung nach bedürftigkeitsgeprüften Leistungen auf dem Tisch. Es ist doch Verschwendung, einfach allen Geld zu geben, ohne zu schauen, ob sie es auch wirklich brauchen. Die Kehrseiten der Bedürftigkeitsprüfung werden dabei übersehen, absichtlich ignoriert oder in Kauf genommen. Sie stigmatisiert Anspruchsberechtigte, treibt sie massenhaft in die verdeckte Armut (exakter: zur systemisch bedingten Nichtinanspruchnahme, vgl. Blaschke 2018) und spaltet die Gesellschaft (vgl. Blaschke 2022).

Bedarfsgerechtigkeit – d. h., eine Verteilungssituation, in der alle Individuen ein Einkommen bzw. Güter zur Verfügung haben, mit dem sie ihre individuellen Bedürfnisse befriedigen können (vgl. Wirtschaftslexikon) – ist so nicht erreichbar. Gerecht ist die Verteilung erst dann, wenn die gesellschaftlich als notwendig erachteten Bedürfnisse aller befriedigt sind. Bedarfsgerechtigkeit ermöglicht im Übrigen auch die Freiheit der Menschen und die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft. Sie ist also keineswegs nur eine sozialpolitische, sondern auch eine gesellschaftspolitische Angelegenheit. Das sieht auch die Bundeszentrale für politische Bildung so: „Begründet wird die Notwendigkeit einer bedarfsgerechten Verteilung der Produktionsergebnisse mit dem Verweis, dass nur eine Bedarfsdeckung die Geltung materieller Freiheit gewährleistet. Erst durch eine ‚angemessene‘ oder ‚ausreichende‘ Ressourcenausstattung aller Bürgerinnen und Bürger sind diese in der Lage, ihre formellen Freiheitsrechte auch zu realisieren und zu nutzen“ (Bundeszentrale für politische Bildung).

Bedarfsgerechtigkeit ohne Bedürftigkeitsprüfung – geht das?

Ja, klar. Aber wie geht das? Indem man die vorgelagerte sozialadministrative Bedürftigkeitsprüfung durch eine nachgelagerte steuerpolitische Verteilung ersetzt. So haben wirklich alle von vornherein die für Freiheit und Teilhabe notwendige materielle Absicherung, alle sind ebenso frei von Armut und sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung. Und gleichzeitig werden denen, die die Geldleistung nicht nötig haben, weil sie hohe bzw. sehr hohe Einkommen bzw. Vermögen haben, diese durch Steuern verschiedener Art wieder abgeschöpft. Allerdings wird die nicht bedürftigkeitsgeprüfte materielle Absicherung – beispielsweise in Form eines Grundeinkommens – selbst nicht besteuert, sondern erst die über es hinausgehenden Einkommen bzw. Vermögen.

Diese erst nachgelagerte steuerpolitische Berücksichtigung von Einkommens- und Vermögensunterschieden ist ein wirksames Umverteilungsinstrument, was soziale Stigmatisierungen ausmerzt und die Spaltung der Gesellschaft minimiert. Man kann das mit anderen, ähnlich nachgelagerten Vorgängen vergleichen: Die Angebote von Kultur und Kunst sind oft vom politischen Gemeinwesen gefördert bzw. subventioniert. Alle haben Zugang dazu, auch Reiche. Dieser wird aber durch deren Steuern (mit)finanziert – man erspart sich sozusagen an der Kasse die Bedürftigkeits- bzw. Einkommens- und Vermögensprüfung. Bei gebührenfreien Angeboten (Bildung usw.) spart man sich sogar ganz die Kasse. Man kann es auch mit dem Steuerfreibetrag vergleichen, der allen unabhängig von der Höhe ihrer Einkommen bzw. Vermögen zusteht und mit Zunahme des Einkommens und des Vermögens einen immer geringeren Anteil der Steuer kompensiert.

Was sagen die Menschen dazu, wenn die Bedürftigkeitsprüfung zugunsten eines universellen Geldanspruchs wegfiele, der unabhängig vom Einkommen und Vermögen besteht?

Dieser Frage ging das Zentrum für neue Sozialpolitik (ehemals Stiftung Grundeinkommen) nach: Im ihrem Briefing #04 / 2023 unter dem Titel „Soziale Hilfen in Krisenzeiten – Hohes Zustimmungspotenzial für Verzicht auf Bedürftigkeitsprüfungen“ stellte das Zentrum Umfrageergebnisse zum Thema Bedarfsgerechtigkeit und Bedürftigkeitsprüfung vor. Die bezogen sich zwar auf Hilfen in Krisenzeiten. Doch kann man sie meiner Meinung nach generell auf das Grundeinkommen übertragen. Die Forscher*innen stellten Folgendes fest: „Nach ihrer Haltung zu Bedürftigkeitsprüfungen im deutschen Sozialsystem im Allgemeinen gefragt, sprechen sich 66 Prozent der Befragten für solche [Bedürftigkeits-]Prüfungen aus, während 34 Prozent der Meinung sind, dass alle, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Situation, Unterstützung in finanziell belastenden Situationen [z. B. in Krisenzeiten] erhalten sollten.“ (S. 2) „80 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass ohne Bedürftigkeitsprüfungen die Gefahr besteht, dass auch wohlhabende Bürger:innen unterstützt werden. Diese Aussage fand mit Abstand die größte Zustimmung. Das lässt darauf schließen, dass vor allem diejenigen, die den Wegfall von Bedürftigkeitsprüfungen ablehnen, stark durch [Bedarfs-]Gerechtigkeitserwägungen motiviert sind.“ (S. 3) Und jetzt kommt das Interessante: „Die Ergebnisse zeigen jedoch auf: Der Fokus auf Bedarfsgerechtigkeit muss sich nicht zwangsläufig in eine Forderung nach Bedürftigkeitsprüfungen übersetzen. Bürger:innen befürworten den Verzicht auf Bedürftigkeitsprüfungen gar, solange sichergestellt ist, dass Bedarfsgerechtigkeit über andere Instrumente gewahrt wird. So wären rund 60 Prozent der initial Befürwortenden von Bedürftigkeitsprüfungen bereit, auf diese zu verzichten, wenn die Leistungen so verrechnet werden, dass ärmere Menschen davon stärker profitieren als wohlhabendere.“ (S. 5) „Auf die Frage, unter welchen Umständen die Befürworter:innen einer Bedürftigkeitsprüfung einen Verzicht auf diese akzeptieren würden, nannte die Mehrheit die Bedingung, dass die Hilfe so bemessen sein müsse, dass ärmere Menschen mehr davon profitieren als wohlhabendere. Unter diesen Umständen würde die Ablehnung der Bedürftigkeitsprüfung im Allgemeinen zunehmen.“ (S. 5) Unter dieser Prämisse erhöht sich das Potenzial an Zustimmungen für nicht bedürftigkeitsgeprüfte Geldtransfers von ehemals 34 Prozent auf rund 74 Prozent, so die Ergebnisse der Umfrage (vgl. S. 5).

Also: Bedarfsgerechtigkeit ja, aber Bedürftigkeitsprüfung kann abgeschafft werden, wenn sichergestellt ist, dass Ärmere mehr profitieren als Reichere. Oder weitergedacht: wenn arme und mittlere Schichten, also die Mehrheit davon profitieren würde, die reicheren Schichten dagegen aber nicht oder sogar verlieren würden. Gerechtigkeitstheoretisch gesprochen: Bedarfsgerechtigkeit ist auch ohne Bedürftigkeitsprüfung möglich. Darüber hinaus: Eine große Mehrheit befürwortet Bedarfsgerechtigkeit ohne Bedürftigkeitsprüfung – unter der Bedingung, dass von den oberen zu den unteren Schichten rück- bzw. umverteilt wird. Wenn man dazu noch argumentieren würde, dass die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern, Sozial- und Grundsicherungsämtern, die sich mit der aufwändigen Bedürftigkeitsprüfungen beschäftigen müssen, besser bei der Aufdeckung von Steuerschlupflöchern und -hinterziehung tätig werden könnten, würde damit auch gleich ein Teil der Kosten eines Grundeinkommens eingespielt: So gehen z. B. jährlich ca. 125 Milliarden Euro in Deutschland durch Steuerhinterziehung verloren (Statista 2019).

Fazit bzgl. des Themas Akzeptanz von Grundeinkommen

Eine Rück- bzw. Umverteilung von oben nach unten ist also die Zwillingsschwester mehrheitlich akzeptierter Grundeinkommensmodelle bzw. anderer universeller, nicht bedürftigkeitsgeprüfter Geldtransfers. Dies wussten und wissen auch die Autor*innen von Grundeinkommensmodellen, wie der Übersicht über diese auf unserer Website zu entnehmen ist. Da die Umverteilungswirkung von oben nach unten auf breite gesellschaftliche Akzeptanz stößt, aber oft gar nicht oder nicht deutlich genug kommuniziert wird, ist dieser Empfehlung der Autor*innen des Briefings # 04 / 2023 voll zuzustimmen: „Um die Akzeptanz für Maßnahmen ohne Bedürftigkeitsprüfung zu erhöhen, ist eine umfassende und verständliche Kommunikation ihrer Wirkung unerlässlich. Die Ergebnisse zeigen hohes Zustimmungspotenzial, das durch fehlende Kommunikation nicht ausgeschöpft wurde – insbesondere in Erwartung weiteren Bedarfs an unbürokratischen Direktzahlungen herrscht hierbei Nachholbedarf seitens der Politik.“ (S. 9)

Und meine Botschaft an die Grundeinkommensaktivist*innen lautet: Rück- und umverteilende Grundeinkommenskonzepte haben ein hohes Akzeptanzpotenzial. Achtet bitte darauf, solche zu propagieren und deren Umverteilungseffekte zugunsten der unteren und mittleren Einkommensschichten und die damit bewirkte Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit hervorzuheben.

Foto: pixabay

2 Kommentare

Eric Manneschmidt schrieb am 22.07.2023, 17:03 Uhr

Sehr wichtiger und guter Artikel!

Es zeigt sich in Gesprächen - auch mit Politiker*innen - immer wieder, dass das ein Knackpunkt ist.

Das erste ist die angebliche Förderung der \"Faulheit\" durch ein BGE. Mehr und mehr Menschen verstehen aber, dass diese Befürchtung nicht sehr begründet ist, weil schon heute mehr Arbeitsstunden unbezahlt geleistet werden als bezahlt (siehe https://www.destatis.de/DE/Methoden/WISTA-Wirtschaft-und-Statistik/2016/02/unbezahlte-arbeit-022016.html)

Das zweite ist dann, dass es angeblich ungerecht sei, \"den Reichen\" auch ein BGE zu zahlen. Obwohl die Leute meistens kein Problem damit haben, dass auch die Reichen kostenlos oder stark subventioniert Bildungs- und Kultureinrichtungen besuchen oder den ÖPNV nutzen dürfen, ihre Gesundheitsversorgung abgedeckt ist usw.

Aber wenn man den Leuten klar macht, dass das BGE problemlos mit der Steuer bei den Leuten wieder weggeholt werden kann, die es nicht brauchen, dann ist der zweite große Einwand widerlegt.

Kevin Illing schrieb am 09.08.2023, 13:38 Uhr

Echt guter Artikel und gut beschreiben, was hinter der Bedürftigkeitsprüfung alles steht.

Auch schön ausgefuchst, dass man die Leute aus dem Amt bei der Aufdeckung von Steuerschlupflöchern und -hinterziehung mit einbeziehen kann.

Ich habe aber dennoch eine Kritik.

Es wird immer von \"den Reichen\" geredet, als ob sie alle gleich wären und das reich-sein was total unerwünschtes ist.

Meine Beobachtung nach, muss man diese Leute schon sehr unterscheiden. Es gibt Leute, die durch Vererbung reich geworden sind, welche die auf dem Finanzmarkt durch Spekulationen reich geworden sind, aber auch welche, die sich das hart erarbeitet haben.

Besonders letztere sind Menschen, die oft auch ein sehr positives Mindset mitbringen und den Leute zurecht vermitteln, dass sich harte Arbeit lohnen kann und das ein Fortschritt in der Menschheit, immer mit harter Arbeit (egal welcher Art) verbunden ist.

Wenn ich denen dann vom BGE und der Umverteilung von Reich nach Arm erzähle, würden die mir erst mal den Vogel zeigen. Schließlich haben sie sich alles selbst aufgebaut und jetzt muss man dann auch noch was davon \"herschenken\".

Wenn man sich mit dem BGE beschäftigt hat, ist diese Argumentation natürlich nicht stimmig aber trotzdem kommt mir die Frage, wie ich diese Leute dazu bringen kann, sich mit dem Thema so ausführlich zu beschäftigen, dass ihre Zweifel beseitigt werden können?

Auch muss man überlegen, ob man nicht doch im Rahmen des BGE den Leuten, die durch harte Arbeit reich geworden sind und auch einen gewissen Mehrwert für die Gesellschaft bringen (Thema Fortschritt) nicht auch eine Wertschätzung in Form von einer Minderbesteuerung/Minderabgabe, oä. mitgeben könne.

Meine Gedanken gehen eben auch so weit, dass in deutschen Firmen eine Grundstimmung der \"Deindustrialisierung Deutschlands\" im Raum steht und das über eine Auswanderung in andere Länder nachgedacht wird. Und ein BGE ohne einer funktionierenden und florierenden Industrie, schwer umzusetzen ist.

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