Psychisch gesund durch Grundeinkommen?
In seinem aktuellen Bericht beleuchtet der Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte der Vereinten Nationen und Professor für Menschenrechte an der Universität Saint-Louis in Brüssel, Olivier De Schutter, wie verheerend sich Armut auf die psychische Gesundheit auswirkt (United Nations 2024). Ihm zufolge schadet die aktuelle, auf Wachstum und Konkurrenz setzende Wirtschaft der Gesundheit. Als Gegenmodell zeichnet er die Vision einer Ökonomie, die das Wohlbefinden der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Zu der gehöre auch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Es würde wirtschaftliche Unsicherheiten reduzieren und den Teufelskreis aus Armut und psychischer Belastung durchbrechen. Durch finanzielle Sicherheit, die nicht von Bedingungen oder Leistungsanforderungen abhängt, könnten Menschen in prekären Lebenssituationen aus der Abhängigkeit herauskommen und ein selbstbestimmtes und würdiges Leben führen.
Die Zusammenfassung des Berichtes lautet wie folgt (Übersetzung der Autorin):
„Der Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, Olivier De Schutter, identifiziert die Mechanismen, die Menschen in Armut einem erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen aussetzen, und untersucht, wie psychische Gesundheitsprobleme, trotz der bemerkenswerten Widerstandskraft vieler Betroffener, die Armut weiter verstärken können. Er ruft die Staaten dazu auf, von einem biomedizinischen Ansatz für psychische Gesundheit, der diese als individuelles Problem betrachtet, zu einem Ansatz überzugehen, der die sozialen Determinanten, also die gesellschaftlichen Ursachen in den Blick nimmt: Um der weltweiten Zunahme von Depressionen und Angststörungen entgegenzuwirken, sollte mehr zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit sowie zur Beseitigung wirtschaftlicher Unsicherheit unternommen werden.
Neben der Erhöhung der Investitionen in die psychische Gesundheitsversorgung nennt er als vorrangige Maßnahmen die Bekämpfung der psychosozialen Risiken, die durch die Prekarisierung der Arbeit entstehen, die Stärkung des sozialen Schutzes durch ein bedingungsloses Grundeinkommen, die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und die Förderung des Zugangs zu Grünflächen, um die Verbindung zur Natur zu stärken. Der Teufelskreis aus Armut und psychischen Gesundheitsproblemen, ist der Preis, den wir für den derzeitigen Fokus auf Wettbewerb und Leistung zahlen. In einer Gesellschaft, die von der Steigerung der gesamten Wirtschaftsleistung besessen ist, kann dieser Kreislauf durchbrochen werden, vorausgesetzt, dass das Wohlergehen über das endlose Streben nach Wirtschaftswachstum gestellt wird.“
Wie Armut und Gesundheit zusammenhängen
Bereits im Jahr 2012 hielt der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen fest, dass Krankheit das Armutsrisiko erhöht. Zugleich erhöht aber auch Armut das Risiko von Unfällen, Krankheiten und Behinderungen (United Nations 2012). In dem aktuellen Bericht führt De Schutter aus, dass sich relative Armut und starke Ungleichheit sogar stärker negativ auf die Gesundheit auswirken als absolute Armut. Absolute Armut bedeutet, dass Menschen nicht die finanziellen Mittel haben, ihre Grundbedürfnisse, wie zum Beispiel ausreichende Nahrung, zu decken. Relative Armut bezeichnet dagegen die Chancenungleichheit innerhalb einer Gesellschaft. Sie misst sich an der sozialen Ungleichheit, insbesondere der Ungleichheit der Einkommen. De Schutter führt zahlreiche Studien an und fasst zusammen, dass ab einem bestimmten Wohlstandsniveau die Einkommensungleichheit zum entscheidenden Faktor für die Gesundheit wird. Je wohlhabender ein Land ist, desto stärker wirkt sich die (un)gleiche Einkommensverteilung auf die psychische Gesundheit aus. Einkommensungleichheit wirke dann wie ein „Virus“, dass aufgrund steigender psychischer Erkrankungen die gesamte Bevölkerung negativ beeinflusst, so De Schutter. Inzwischen leben etwa 970 Millionen Menschen (11% der Weltbevölkerung) mit einer psychischen Beeinträchtigung (WHO o. J. a), über 280 Millionen leiden an Depressionen und jährlich führen etwa 700.000 Suizide zum vorzeitigen Tod (WHO o. J. b).
Als stärkste Auslöser für psychische Erkrankungen benennt De Schutter wirtschaftliche Unsicherheit (United Nations 2024). Für Menschen, die ständig um ihre Existenzgrundlage kämpfen müssen, führen prekäre Jobs, unvorhersehbare Arbeitszeiten und die Abhängigkeit von kurzfristigen Aufträgen zu chronischem Stress, der Krankheiten begünstigt. Gerade im Niedriglohnbereich tätige Menschen sind einerseits wirtschaftlich unsicheren und andererseits auch häufiger krankmachenden Arbeitsbedingungen – wie Schichtarbeit, hohem Zeitdruck, geringem Gestaltungsspielraum und einer schlechten Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Privatleben – ausgesetzt. Auch Erwerbslosigkeit geht mit einer schlechteren psychischen Gesundheit einher, insbesondere weil sie die soziale Teilhabe oft verschlechtert. Die Stigmatisierung von Personen, die soziale Unterstützungsleistungen erhalten, zum Beispiel als „faul“ oder „arbeitsunwillig“, wirkt sich negativ aus. Dazu sei eine steigende (finanzielle) Unsicherheit durch den Klimawandel festzustellen. So stiegen beispielsweise in Indien die Suizidraten infolge von temperaturanstiegsbedingten Ernteausfällen. In Indonesien führten Einkommensverluste in der Landwirtschaft aufgrund von Starkregen ebenfalls zu höheren Depressions- und Suizidraten (United Nations 2024).
Psychisch gesund durch Grundeinkommen?
Zusätzlich zum Ausbau der psychischen Gesundheitsversorgung und zur Verbesserung der Zugänge zu Grünflächen könnte ein Grundeinkommen bzw. grundeinkommensähnliche Geldtransfers psychisch stabilisieren, so De Schutter. Denn sie würden eine verlässliche finanzielle Grundlage bieten, die unabhängig von den Schwankungen des Arbeitsmarktes ist. Die Sicherheit eines stabilen Einkommens würde den Menschen ermöglichen, ihre Energie auf langfristige Entscheidungen und persönliche Entwicklung zu konzentrieren, anstatt permanent um das wirtschaftliche Überleben zu kämpfen. De Schutter verweist dabei auf verschiedene Studien, die die positiven Auswirkungen eines partiellen Grundeinkommens auf die psychische Gesundheit belegen. So erhielten in Finnland zum Beispiel 2.000 nicht erwerbstätige Personen über zwei Jahre ein partielles Grundeinkommen und berichteten anschließend von verbesserter Lebenszufriedenheit, weniger Stress und höherer Konzentrations- und Lernfähigkeit. Ein ähnliches Experiment in Kanada zeigte, dass eine garantierte Grundsicherung die Krankenhausaufenthalte wegen psychischer Belastungen um 8,5 % reduzierte. Solche Ergebnisse sprechen dafür, dass bedingungslose Geldtransfers psychische Belastungen verringern können, indem sie mehr finanzielle Sicherheiten schaffen und dabei gleichzeitig die Inanspruchnahme kostspieliger Gesundheitsdienste reduzieren.
De Schutter zufolge bietet ein bedingungsloses Grundeinkommen mehr als nur finanzielle Unterstützung. Es entlaste die Menschen zudem von der Angst vor Sanktionen und sozialer Stigmatisierung, die oft mit traditionellen sozialen Sicherungssystemen einhergingen. Statt durch komplizierte Antragsverfahren und Bedingungen „bürokratisch kontrolliert“ zu werden, würden Grundeinkommensbezieher*innen ein garantiertes Recht auf Unterstützung erfahren. De Schutter weist auch darauf hin, dass diese Freiheit von Bedingungen nicht nur die psychische Gesundheit verbessere, sondern den Menschen auch ein neues Selbstbewusstsein und ein Gefühl der gesellschaftlichen Zugehörigkeit gebe. Freiheit und soziale Sicherheit befähige Menschen auch dazu, bessere und weitsichtigere Entscheidungen zu treffen. Stress lässt Menschen in prekären Situationen oft eher kurzfristige Optionen in Betracht ziehen und behindere so den Weg aus der Armut. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte diese Last mindern und den Menschen eine verlässliche Basis geben, auf der sie Entscheidungen mit größerem Weitblick treffen können. Daher ist auch anzunehmen, dass sich ein Grundeinkommen als wirksam erweisen könnte im Kampf gegen den Klimawandel.
Das menschliche Wohlergehen im Mittelpunkt
Aus dem Bericht wird deutlich: Ein Grundeinkommen ist nicht bloß eine Sozialleistung, sondern könnte eine revolutionäre Maßnahme sein, die das Leben vieler Menschen entscheidend verbessert und ihnen Würde, Sicherheit und psychische Gesundheit zurückgibt. In einer Ökonomie, die das Wohl der Menschen in den Mittelpunkt stellt, würde ein Grundeinkommen das Fundament für eine Gesellschaft bilden, die sich eine möglichst hohe Lebensqualität der Menschen zum obersten Ziel setzt. Ein Grundeinkommen wäre nicht nur eine Antwort auf wirtschaftliche Unsicherheit und psychische Belastungen, sondern könnte die Basis für ein neues gesellschaftliches Verständnis von Wohlstand und Gerechtigkeit schaffen. Durch ein Grundeinkommen hätten Menschen in allen sozialen Schichten die Chance, sich voll zu entfalten, ohne dass ihr Handeln allein durch wirtschaftliche Zwänge bestimmt ist. Die Staaten sollten dem Aufruf folgen, Armut und Ungleichheit zu verringern, bessere Teilhabe zu ermöglichen und gegen die Stigmatisierung psychischer Krankheiten zu wirken.
Einordnend bleibt zu sagen, dass De Schutter im Bericht, wie viele andere Personen auch, zwar oft allgemein von einem „basic income“, also Grundeinkommen, sowie auch nur von grundeinkommensähnlichen („unconditional basic income-like schemes“), bedingungslosen Geldtransfers („unconditional cash transfer“) oder bedingungslosen Modellen („unconditional schemes“) schreibt. Diese müssen durchaus nicht einem Grundeinkommen gemäß bekannter Definition entsprechen. So schreibt er zum Beispiel: „Aus diesem Grund empfiehlt der Sonderberichterstatter, soziale Sicherungssysteme so weit wie möglich umzusetzen, ohne übermäßige Zielgerichtetheit und ohne die Einführung von Bedingungen, die die Akzeptanz beeinträchtigen und genau jene Unsicherheit schaffen können, die solche Systeme verhindern sollen. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen bietet die Art von Sicherheit, die psychische Gesundheitsprobleme verhindern kann, die mit wirtschaftlicher Unsicherheit verbunden sind.“ (United Nations, 2024, S. 15). Die Ablehnung des „excessive targeting“ (2024, S. 11, 16), also der übermäßigen Zielgerichtetheit der Transfers, zum Beispiel nur für Arme, bedeutet eben noch nicht zwangsläufig, dass man sich für universelle und bedingungslose Transfers ausspricht. Ein weiteres Kriterium wird im Bericht nicht angesprochen – dass die Höhe des Transfers existenz- und teilhabesichernd sein solle. So war beispielsweise die im Bericht erwähnte Geldzahlung im finnischen Grundeinkommens-Experiment weder existenzsichernd noch frei von einer Bedürftigkeitsprüfung. Der Bericht zeigt aber deutlich, dass im Vergleich zu den aktuellen sozialstaatlichen Leistungen schon grundeinkommensähnliche Leistungen bzw. niedrige bedingungslose Transfers positive Effekte auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen haben. Umso größer ist der anzunehmende Effekt eines bedingungslosen Grundeinkommens, insbesondere in Kombination mit bedingungslos zugänglicher öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistungen, wie beispielsweise eine gebührenfreie und ausreichende Gesundheitsversorgung für alle Menschen.
Literatur:
United Nations (2024): The burnout economy: poverty and mental health. Report of the Special Rapporteur on extreme poverty and human rights.
United Nations (2012): Guiding Principles on Extreme Poverty and Human Rights. Para. 81.
WHO (o. J. a): Mental Health. Impact.
WHO (o. J. b): Mental and brain Health.
Zur Autorin: Marina Martin ist Mitglied im Netzwerk Grundeinkommen, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in und bei der Partei Die Linke und beruflich im Bereich Public Health tätig, wobei ihr Fokus die Zusammenhänge zwischen Armut und Gesundheit umfasst.
3 Kommentare
Danke für diesen sehr interessanten Artikel!
Wer ihn nicht schon kennt, sei an dieser Stelle auf den Artikel
Bedingungsloses Grundeinkommen: Eine Lösung für den Teufelskreis aus Psychopathologisierung, Medikalisierung und Chronifizierung der Beschwerden
von Hernán María Sampietro in unserer Übersetzung hingewiesen: https://bge-rheinmain.org/psychische-gesundheit-bedingungsloses-grundeinkommen
War selbst 3 Jahrzehnte abhängig vom Amt - eine Schande, wie man mich teils verwaltet hat, mich zwingen wollte, trotz ich auf geringfügiger Basis immer wieder wo reingerutscht bin - alles gemacht habe, aber das genügte nicht offenbar und irgendwann hieß es dann, jetzt Rente beantragen - nun habe ich damit nichts mehr zu tun, aber noch keine Rente (knapp über 50) ich mußte dann zum amtsärtzlichen Test ...Ergebnis nur 3 Stunden körperlich arbeitsfähig - mittlerweile habe ich es aus eigener Kraft geschafft, bin Vermieter, habe 3 Häuser bezahlt und einen ausgemusterten berliner Doppeldeckerbus aus den 70ern - nur Glückssache, aber ich bin nach wie vor für das Grundeinkommen, damit Ämter, Verwaltungsapparate, Arbeitsberater nicht mit anderen auch so umgehen, wie sie es mit mir getan haben - einfach nur abscheulich und absolut entwürdigend.
Als ich auf das Thema BGE kam, war als ich vor 7 Jahren in der Arbeitswelt neu war und mir ließ der Gedanke nicht los, warum ich Zwangsarbeit leisten musste. Es war ein Job den mir nicht gefiel aber um zu überleben musste ich es machen, obwohl ich mich weiter entwickeln wollte. Irgendwann ließen mich die Gedanken nicht mehr los, warum zum Geier eine existenzielle Sicherheit es nicht gibt. Daraufhin fing ich an im Internet nach Themen wie \"Leben ohne Zwang\", \"Moderne Sklaverei\", etc. zu recherchieren und da sah ich zum ersten mal das Thema BGE. Es hat mich umgehauen, als ich tatsächlich nicht der einzige Mensch gewesen war, der sich Gedanken über eine gesicherte Existenz gemacht hat und, dass es sogar Gemeinschaften gab wie \"Mein Grundeinkommen\". Seit dem verfolge und unterstütze ich Stolz die Thematik wo ich immer nur kann, denn es ist wirklich kaum zu glauben, dass die Menschheit in einer Welt leben, mit so vielen Entdeckungen und Fortschritte und trotzdem wie wilde Tiere ums Überleben kämpfen müssen. Das ist für mich der Beweis, wie verschlafen die Menschen sind, die das als pure normalität empfinden!!