Politik des Arbeitszwangs ist völkerrechtswidrig und schädigt Mensch und Gesellschaft. Die Alternative: Grundeinkommen
Die zukünftigen Koalitionäre von CDU, CSU und SPD wollen den Arbeitszwang bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit einer Ausweitung von Sanktionen verschärfen. Studien belegen, dass Sanktionen völkerrechtswidrig sind und Mensch wie Gesellschaft schädigen. Das Netzwerk Grundeinkommen hat sich an die zukünftigen Koalitionäre von CDU, CSU und SPD einen offenen Brief geschickt, bisher noch keine Antworten erhalten. Wir bleiben dran.
Das Sondierungspapier der zukünftigen Koalitionäre CDU, CSU und SPD
Im Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD ist u. a. Folgendes zum Bürgergeld festgehalten:
„Das bisherige Bürgergeldsystem gestalten wir zu einer neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende um.“ „Wir werden Vermittlungshürden beseitigen, Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Sinne des Prinzips Fördern und Fordern verschärfen. Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen. Für die Verschärfung von Sanktionen werden wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten.“
CDU-Chef Friedrich Merz sagte bei der Vorstellung des Sondierungspapiers in Berlin: „Für Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“
Sanktionen sind völkerrechtswidrig
In Teil 1 meiner Analyse des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu Sanktionen gemäß Zweitem Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende) vom 9. November 2019 (Blaschke 2019, Teil 1) habe ich auf das völkerrechtliche Verbot von Zwangsarbeit hingewiesen. Das Verbot ist im Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) 29 von 1930 festgehalten. Im Artikel 2, 1 dieses Übereinkommens heißt es:“Als ‚Zwangs- oder Pflichtarbeit‘ gilt jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.“ Max Kern, langjähriger Leiter der Sektion Zwangsarbeit der Hauptabteilung Normen in der IAO, kommt in einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung (DGB) (S. 76 f.) zu folgendem Schluss: “Auf der Ebene des Völkerrechts erfüllen die Sanktionen des § 31 SGB II […] das in Art. 1 Abs. 2 des Übereinkommens Nr. 29 aufgeführte Kriterium der ‚Androhung irgendeiner Strafe‘.“ Folgt man diesem Schluss, dann verstößt es gegen das völkerrechtliche Verbot von Zwangsarbeit, wenn man zum Beispiel Grundsicherungsbeziehende mit Sanktionen droht, falls sie eine Arbeit nicht annehmen.
Der Nachranggrundsatz ermöglicht Totalsanktionen – wider das Völkerrecht
Die Völkerrechtswidrigkeit der Sanktionen bei der Grundsicherung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem damaligen Urteil 2019 übergangen. Zum einen begründete es nicht hinreichend, warum Leistungsminderungen um 30 Prozent
verfassungskonform seien. Zum anderen beurteilte sie auch einen vollständigen Leistungsentzug unter bestimmten Umständen für zulässig, wie es am Ende des folgenden Zitats aus dem Urteil zum Ausdruck kommt: „Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit […] ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“ (Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 2019, Rz 209)
Damit erzeugt man die Fiktion, diese erwerbsfähigen Erwerbslosen wären wie Erwerbstätige mit ausreichendem Einkommen nicht bedürftig. Damit kann ihnen als „Nichtbedürftige“ die Grundsicherungsleistung verwehrt werden könne. Weiter heißt es: „Denn der [Gesetzgeber] kann laut BVerfG die Gewährung existenz- und teilhabesichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden. Dieser Nachranggrundsatz besagt, dass Betroffene zunächst einmal eigne Mittel (Einkommen, Vermögen, Zuwendungen Dritter) und ihre eigne Arbeitskraft einzusetzen haben, bevor staatliche Leistungen zur Sicherung des Existenz- und Teilhabeminimums gewährt werden. Staatliche Leistungen sind also nachrangig. Diesem Nachranggrundsatz kann der Gesetzgeber folgen, muss es aber nicht. Abgesehen von der ‚Schonung der begrenzten finanziellen Ressourcen‘ zur ‚Verwirklichung des sozialen Staatsziels‘ führt das BVerfG jedoch nicht weiter aus, warum es dem Gesetzgeber die Möglichkeit gibt, diesem Nachranggrundsatz zu folgen. Es unterstellt damit lediglich, dass ein Ausschluss des Nachranggrundsatzes dazu führt, dass nicht mehr genügend Mittel zur Verfügung stünden, um das soziale Staatsziel zu verwirklichen.“ (Blaschke 2019, Teil 1) Gegen diese Unterstellung sprechen die berechneten Grundeinkommenskonzepte.
Isabel Erdem hat bereits damals darauf hingewiesen, welche Sprengkraft die fiktive Nichtbedürftigkeit birgt: „Die Annahme einer ‚fiktiven Nichtbedürftigkeit‘ bei grundsätzlich Leistungsberechtigten (also trotz ermittelter tatsächlicher Bedürftigkeit) ist eine Konstruktion, die erhebliche Gefahren für die weitere Begrenzung sozialrechtlicher Leistungsansprüche birgt. Denn die ‚wirkliche Bedürftigkeit‘ kann abgesprochen werden, obwohl tatsächlich ungedeckte Bedarfe vorliegen. Die Folge ist, dass über diesen ‚Umweg‘ Kürzungen des Existenzminimums möglich werden – und zwar bis hin zu einem vollständigen Leistungsentzug.“ (Isabel Erdem am 15. November 2019, Hervorhebung, R. B.)
Ob CDU/CSU und SPD mit der vollständigen Leistungskürzung auch die Übernahme der Kosten der Unterkunft und Heizung streichen will, ist noch unklar. Fakt ist: Wer die Möglichkeit von Zwangsarbeit ausschließen will, muss sich aufs Völkerrecht stützen und dafür sorgen, dass die Gesellschaft und die herrschenden Parteien sich vom Nachranggrundsatz verabschieden und stattdessen für ein Grundeinkommen einstehen, welches bekanntlich keine Bedürftigkeit zur Voraussetzung hat. Dann kann weder tatsächliche Nichtbedürftigkeit noch deren fiktive Unterstellung zum Nichterhalt der Leistung führen.
Schädlichkeit der grundsätzlichen Sanktionierbarkeit und von Sanktionen gemäß Sozialgesetzbuch für Menschen und Gesellschaft
Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat in den letzten Monaten Ergebnisse mehrerer Studien vorgestellt, wie Sanktionen die Erwerbsbereitschaft Erwerbsloser ggf. beeinflussen und welcher Qualität die Beschäftigungsverhältnisse sind, die durch Sanktionsmöglichkeiten erzwungen werden könnten (vgl. IAB-Forum). Im Folgenden nehme ich auf die jüngste Publikation „Sanktionierbarkeit aus Sicht von Leistungsberechtigten“ (vgl. IAB-Forschungsbericht 4/2025) Bezug. In ihr finden sich Studienergebnisse zur Wirkung der „Sanktionierbarkeit als Strukturprinzip der Grundsicherung“ (S. 22). Der Begriff Sanktionierbarkeit weist schon darauf hin, dass es nicht nur um die Wirkungen von tatsächlich durchgesetzten Sanktionen auf die Bestraften geht, sondern auch um die der Sanktionierbarkeit an sich. Das heißt, es geht auch darum, welchen Einfluss sie auf die hat, die gar nicht sanktioniert werden – als (un)ausgesprochen im Raum stehende Androhung. Die Ergebnisse der Studie sind vielfältig. Aus Begrenzungsgründen greife ich lediglich einige Aussagen heraus:
1. Das vage und teilweise auch falsche „Wissen“ über gesetzliche Sanktionsmöglichkeiten wirkt auf Grundsicherungsbeziehende „lähmend“, verursacht „Druck, Stress und Angst“ (S. 17).
2. Das Verhältnis zu den Mitarbeiter*innen des Jobcenters, mit denen Grundsicherungsbeziehende Kontakt haben, leidet aufgrund dieser Wirkungen. Darüber hinaus stehen „mitunter“ Unverständnis und Gefühle der Bevormundung im Vordergrund des Verhältnisses zum Jobcenter und deren Mitarbeiter*innen. Das Beratungsverhältnis wird durch die asymmetrische „Beratungs“konstellation belastet, ein vertrauensvolles und auf Mündigkeit setzendes Beratungsverhältnis gefährdet (S. 5, 16). Bewertung: Eine asymmetrische Beratungskonstellation ist dem Erfolg der Beratung nicht dienlich, ist ineffektiv.
3. Ein an das Sanktionsregime angepasstes Verhalten der Grundsicherungsbeziehenden, in dem sie den Anforderungen und Vorgaben des Jobcenters folgen, verbinden diese eher nicht mit der notwendigen Aufnahme einer Erwerbsarbeit, die doch der offizielle politische Zweck des Ganzen ist. Vielmehr werden die (erzwungenen) Aktivitäten gemäß den Vorgaben des Jobcenters durch das Bestreben „motiviert“, Sanktionen zu vermeiden (S. 16, 18, 22). Bewertung: Sanktionierbarkeit wird also eher mit einem Verhalten verbunden, durch das Sanktionen vermieden werden, als mit der Aufnahme einer Erwerbsarbeit, die deren eigentliches Ziel sei.
4. Sanktionen gehen, a), wenn sie passiv hingenommen und mit eigenem Verschulden in Verbindung gebracht werden, mit einer Selbstabwertung der Betroffenen einher. Sie können b) auch als nicht selbst verschuldet, sondern als Ausdruck mangelnder „Wissens“ressourcen zur Sanktionsvermeidung bewertet werden: „In dieser Perspektive sind Sanktionen eine Strafe für diejenigen, die nicht über entsprechende Routinen der Sanktionsvermeidung verfügen.“ (S. 19) Wenn Sanktionierte c) die Verantwortung für die Sanktion nicht bei sich sehen, werden diese als „ungerechtfertigte Strafe“, als „Instrument zur Durchsetzung des Arbeitszwangs“, als „Machtdemonstration“, „Willkür“ oder „bürokratische Sinnlosigkeit“ wahrgenommen (S. 19).
5. mit Verbindung zu 3 b): „Leistungsberechtigte mit geringerer Qualifikation [sind] mit höherer Wahrscheinlichkeit von Sanktionen betroffen als Leistungsberechtigte mit höherer Qualifikation. […] In dem Maße wie Sanktionen die Ressourcenschwächeren unter den Leistungsberechtigten überproportional häufig treffen, verschärfen sie bestehende Benachteiligungen.“ (S. 23)
6. Das Wissen um die Sanktionierbarkeit, die den stigmatisierenden Eindruck untermauert, dass die Leistungsberechtigten von der gesellschaftlichen Normalitätsvorstellung der Erwerbsarbeit abweichen und faul auf Kosten der Allgemeinheit leben (S. 15), führt dazu, dass man sich von denen, die angeblich nicht arbeiten wollen, abwertend abgrenzt. Bei Sanktionierten wurde ein ähnliches Bewältigungsmuster festgestellt: Die eigene Sanktion wird heruntergespielt und es wird sich von denjenigen abgegrenzt, die deren Meinung nach zu Recht sanktioniert werden (S. 18).
7. Sowohl das Wissen um die Sanktionierbarkeit als auch selbst erfahrene Sanktionen führen zu einem Vertrauensverlust gegenüber der Institution Jobcenter – bis hin zum Gefühl, bevormundet zu werden (S. 16). Eine erfolglose (rechtliche) Sanktionsabwendung führt gar zum Gefühl der „Machtlosigkeit“ (S. 21).
Die Studienergebnisse zeigen, wie verheerend die Sanktionierbarkeit und tatsächlich vollzogene Sanktionen sind:
Schädigung von Menschen
– Betroffene Menschen werden unter Druck gesetzt, gestresst und verängstigt.
– In bestimmten Fällen werden Selbstabwertungsprozesse bei Betroffenen in Gang gesetzt oder verstärkt.
– Sozial Benachteiligte werden überproportional häufig sanktioniert, sodass sie ihre Benachteiligung noch verstärken.
– Sanktionierbarkeit führt zu asymmetrischen „Beratungs“verhältnissen.
– Statt Arbeitsmotivation zu erzeugen, wird Sanktionsvermeidungsverhalten provoziert.
Schädigung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Verschärfung der Spaltung der Gesellschaft
– Abwertungsprozesse gegenüber Menschen mit geringeren Ressourcen, um behördlicher Anforderungen zu bewältigen, werden in Gang gesetzt oder verschärft.
– Das Ausagieren der Erwerbsnorm wird selbst in der Gruppe der Grundsicherungsbeziehenden bestärkt, ebenso wie die Diskriminierung von Menschen als vermeintlich „Faule“. Bestehende gesellschaftliche Abgrenzungen und Abwertungen werden nicht nur bestätigt, sondern bestärkt.
– Grundsicherungsbeziehende verlieren Vertrauen in staatliche Institutionen sowie deren Mitarbeiter*innen und damit auch in die Gesellschaft, die durch diese Institutionen repräsentiert wird.
Fazit
Sanktionieren zu können und es auch tatsächlich zu tun sind herrschaftskonstituierende Komponenten einer erwerbszentrierten Sozialpolitik. Gleichzeitig unterminieren sie die Gesellschaft und verschärfen ihre Probleme.
Sanktionierbarkeit und Sanktion bei der Grundsicherung sind völkerrechtswidrig.
Sie schädigen Mensch und Gesellschaft. Alles in allem sind sie einer Gesellschaft unwürdig, die beansprucht, die Grundlagen der Gesundheit von Menschen, von Solidarität und Demokratie zu schaffen und zu bewahren.
Ein Grundeinkommen würde die schädlichen Folgen des Sanktionsregimes für Mensch und Gesellschaft eliminieren. Völkerrechtswidriges würde es ebenso hinter sich lassen wie eine Sozialpolitik, die die selbstbestimmte Wahl des Einsatzes der eignen Arbeitskraft untergräbt.
Nachbemerkungen
Hier in aller Kürze drei weitere Argumente gegen Sanktionierbarkeit und Sanktionen gemäß Sozialgesetzbuch:
a) Weitere Studien ergaben, dass der arbeitsmarktpolitische Nutzen von Sanktionen fragwürdig und widersprüchlich ist (vgl. https://www.iab-forum.de/bedarf-es-schaerferer-leistungsminderungen-beim-buergergeld/).
b) Darüber hinaus dürfte eine Ausweitung des bestehenden Sanktionsregimes den schon jetzt sehr hohen bürokratischen und damit auch finanziellen Aufwand der Jobcenter noch weiter erhöhen (vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article255716218/Jobcenter-Entlarvende-Studie-zum-Buergergeld-Bis-zu-70-Prozent-der-Gelder-in-die-Verwaltung.html)
c) Fiskalisch dürfte es dagegen sinnvoller sein, Steuerhinterziehung und -vermeidung zu bekämpfen, statt die Drangsalierung von Grundsicherungsbeziehenden durch eine Verschärfung des Sanktionsregimes auszuweiten (vgl. https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/buergergeld-betrug-steuerhinterziehung-finanzieller-schaden-102.html
4 Kommentare
Sehr wichtiger Artikel. Wir erleben gerade ein großes Anwachsen psychischer Erkrankungen. und das seit CCIVID1-19, wo Ansgt vor Zusammenleben entstand, wegen möglicher Ansteckungsgefahr. Mit dem Ausbruch eines Krieges auf dem europäischen Kontinent und der Wahl von Donal Trump wird nun Angst davor geschürt, dass wir schutzlos, irgendwelchen Autokraten ausgeliefert sind. Und nun kommt noch die Angst dazu, möglicherweise die blanke Existenz nicht mehr gesichert zu bekommen, beziehungsweise gezwungen zu werden, seine Zeit mit irgendwelchen Tätigkeiten zu verbringen, die vielleicht gar nicht zu den eigenen Wertvorstellungen passen, bzw. z.B. sich nicht mehr angemessen um Familie und Freunde kümmern zu können, weil diese Art Tätigkeit nicht als notwendig anerkannt wird oder nur als nebensächlich und untergeordnet. Es ist höchste Zeit für die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens, auch damit mehr Menschen Zeit haben, sich politisch einzubringen.
Der Arbeitszwang spielt sich in einem größeren Rahmen ab, nämlich im wettbewerbsorientierten Arbeitsmarkt. Dieser erzeugt sowohl bei den Erwerbsarbeitssuchenden als auch den Erwerbstätigen einen Druck. Die noch fest Beschäftigten haben Angst, in prekäre Arbeitsverhältnisse abzurutschen. Die prekär Beschäftigten haben Angst, nicht mehr von ihrem Arbeitslohn leben zu können. Und den Menschen ohne Arbeitsplatz wird im Jobcenter-System Angst gemacht. Ich habe es selber erlebt, wie das ist. Jetzt bin ich in Rente, aber das unmenschliche System geht mehr immer noch nach. Das Arbeitsmarkt- und Jobcenter-System macht viele Menschen regelrecht krank.
Als Mensch mit Einschränkungen (Autismus-Spektrum) kann ich sagen, dass die ungedeihlichen Verhältnisse in der Arbeitswelt mit der Agenda-2010-Politik verschärft wurden, doch nicht neu sind. Wenn ich auf mein Arbeitsleben zurückblicke, stelle ich fest, dass es ein Chaos ist. So geht es vielen Menschen im Autismus-Spektrum, selbst den sogenannten hochfunktionalen. Ich verwende den relativ allgemeinen Begriff Einschränkungen (Behinderung, Krankheit, Alter, Lebenslage usw.) ganz bewusst. Denn es sind nicht nur Menschen wie ich mit Schwerbehindertenstatus, sondern immer mehr Menschen allgemein, die in der immer härter werdenden Arbeitswelt nicht mehr mithalten können.
Ein entscheidender Effekt eines BGE ist, dass es den Menschen jedenfalls die finanzielle Existenzangst nimmt. Eine gute Politik sollte das allgemein bewirken. Was ich aber in der real existierenden Politik sehe, ist das Gegenteil. Und ich sehe, dass die emanzipatorischen, sozialen und ökologischen Bewegungen schrittweise ausmanövriert werden. In den USA ist das am deutlichsten zu sehen. Somit geht es um viel mehr als nur die Einführung eines BGE.
Die zentrale Frage ist, wie wir uns effizient Gehör verschaffen können. In den Parlamenten haben wir BGE-Befürwortende praktisch keine Vertretung. Selbst in der Partei Die Linke wurde die Aufnahme des BGE beim Bundesparteitag 2024 abgelehnt trotz eines positiven Mitgliederentscheids vorher. Die BGE-Bewegung leistet viel außerparlamentarische Arbeit, aber das reicht leider nicht aus. Bei den in den Parlamenten vertretenen Parteien sind wir nur Bittsteller.
Ich denke, dass es schwierig ist, Zustimmung für ein BGE zu gewinnen, solange die Leute Angst haben, dass Ihnen etwas weggenommen wird. Denn ausgerechnet diejenigen, die selbst gerade so über die Runden kommen, sprechen sich oft dagegen aus. Ein BGE müsste daher mit finanzieller Besserstellung auch dieser Gruppe quasi \"erkauft\" werden, so dass wiederum die Frage aufkommt, wer das in dieser Kombination finanzieren soll. Und hier denke ich fehlt es daran, noch viel viel deutlicher darauf hinzuweisen und zu betonen, dass Super- u. Überreiche unserer Gesellschaft und auch der Wirtschaft schaden, weil sie Kaufkraft von den \"unteren\" Schichten abziehen und damit das Wachstum von Wirtschaft und Wohlstand verhindern, von entgangenen Steuereinnahmen infolge illegaler und legaler (!) Steuervermeidung ganz zu schweigen, die letztendlich staatliche Investitionen in Bildung und Infrastruktur verhindert, weil dem Staat ebendiese Steuereinnahmen fehlen. Zunehmende Ungleichheit schadet uns allen und daran sind weder die Bezieher von Grundsicherung schuld noch die Migranten oder andere ohnehin schon benachteiligte Gruppen. Wir müssen dringend weg von dem Narrativ, dass die Armen uns belasten. Was uns als Gesellschaft belastet, sind fehlende Steuereinnahmen nicht nur wegen Steuerbetrug, sondern auch wegen Steuergeschenken an Reiche. Auch dem Narrativ, der Staat habe kein Einnahmeproblem, dürfen wir nicht weiter folgen. Leider verbreiten nicht nur rechte Parteien, sondern zunehmend auch die SPD die Meinung, dass Sanktionen gegen Arme \"sozial gerecht\" seien. Unsäglicher Weise wird ebendieser Meinung in Talkshows etwa von Lanz und Illner häufig noch eine Bühne geboten. Dass auch Journalisten und Politiker wie etwa Markus Söder ihre persönliche finanzielle Einkommens- und Erbschaftssituation und auch die ihrer Klientel schützen wollen, mag in gewissem Sinne \"menschlich\" sein, hilfreich in gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Sinne ist es hingegen nicht. Allen diesen falschen Narrativen zum angeblich fehlenden Einnahmeproblem des Staates, der angeblichen Stärkung des sozialen Zusammenhalts durch Bestrafung armer Menschen und zum Vorwurf einer Neiddebatte statt der Lösung des Ungleichheits- und Gerechtigkeitsproblems müssen wir bei jeder erdenklichen Gelegenheit noch viel schärfer entgegentreten und nicht nur Söder, sondern auch Lanz und Illner entschieden korrigieren. Wir dürfen nicht weiter zulassen, dass Arme gegen noch Ärmere aufgehetzt werden.
Zum Kommentar von Anja H. vom 04.04.2025: Richtig.
Ich persönlich plädiere für das umfassende emanzipatorische BGE-Modell der BAG Grundeinkommen der Partei Die Linke. Darin sind die zutreffenden Einwände sowohl aus dem gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen und sozialistischen Spektrum als auch aus der Bevölkerung berücksichtigt. Die Einnahmenseite ist in diesem Modell deutlich erhöht, was übrigens auch unabhängig von einem BGE notwendig ist. Die große Mehrheit der Bevölkerung steht damit besser da als jetzt. Ich fasse diese Einnahmenerhöhung unter dem Begriff Rückverteilung zusammen. Das heißt im Grunde einfach, dass die Reichen, die Banken und die Konzerne ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen entsprechend nachkommen wie die anderen Menschen und kleinen Betriebe im Lande. Mir fehlt dieses fünfte Kriterium in der Definition des BGE. Siehe auch, was ich anderweitig geschrieben habe: https://www.grundeinkommen.de/25/10/2024/parteitag-die-linke-delegierte-stellen-sich-gegen-mitgliederentscheid-pro-grundeinkommen.html
Ich beschäftige mich seit rund 16 Jahren mit dem BGE. Von 2010 bis 2012 war ich politisch sehr aktiv. Das war ja auch die Zeit nach der Banken- und Finanzkrise, wo die Chancen für einen Politikwechsel zugunsten der Bevölkerung bestanden. Leider hat sich die Politik weltweit dafür entschieden, das kaputte Finanzsystem mit den Steuergeldern der Bevölkerungen zu sanieren und es dann so weiterlaufen zu lassen. Schlimmer noch, europäischen Staaten wurde eine Austeritätspolitik verordnet. Das war einer der Schlüsselmomente für den Triumph des Kapitalismus neben der Agenda-2010-Politik und des Über-den-Tisch-Ziehens der Ostdeutschen in der Nachwendezeit.
Da könnte ich jetzt viel über die Großkopferten schimpfen. Aber wenn ich mir die Entwicklungen seit der Wendezeit anschaue, sehe ich wiederholt eine mangelnde Solidarität in der deutschen Bevölkerung. Also der Westdeutschen gegenüber den Ostdeutschen. Der Erwerbstätigen gegenüber den Erwerbslosen. Der deutschen Bevölkerung gegenüber den Bevölkerungen insbesondere den südeuropäischen Staaten. Und die immer weiter zunehmende Migrationsfeindlichkeit. Vor 10 Jahren wurde noch von einer Willkommenskultur gesprochen, nun herrscht eine Abschottungskultur. Hier empfehle ich die Doku mit dem Titel Masterplan, die Ende März im Ersten gesendet wurde. Zu finden unter https://www.ardmediathek.de/dokus-investigativ
Diese mehrfache Entsolidarisierung, die immer weitere Kreise zieht, ist meiner Ansicht nach auch der entscheidende Grund, warum auch wir BGE-Befürwortende es so schwer haben mit unserer Idee. Gleichartiges gilt für andere emanzipatorische Themen. Es gibt viele engagierte Menschen quer durch die Generationen bei vielen Themen. Aber dieses Engagement geht immer wieder unter.