Soziale Basissicherung – ein Konzept der Vereinten Nationen gegen weltweite Armut

Herbert Wilkens 24.09.2012 Druckversion

Die Internationale Arbeitsorganisation ILO hat im Mai 2012 eine Resolution zur sozialen Grundsicherung verabschiedet. Das bedingungslose Grundeinkommen könnte in das Konzept integriert werden.

Mehr als 5 Mrd. Menschen weltweit sind nicht ausreichend sozial abgesichert, sind arm oder leben im absoluten Elend. Die Internationale Arbeitskonferenz (ILC), das Parlament der ILO, hat daraus die Konsequenz gezogen und eine Empfehlung beschlossen, die allen Menschen einen Sockel an sozialer Sicherung verschaffen soll, d.h. insbesondere eine medizinische Grundversorgung und ein Mindesteinkommen. Die Empfehlung basiert auf einer umfangreichen Studie, die unter dem Vorsitz von Michele Bachelet erarbeitet und 2011 fertiggestellt wurde, dem „Bachelet-Report“.

Die Empfehlung richtet sich an die 185 Mitgliedsländer der ILO und an die anderen UNO-Unterorganisationen. Sie stärkt Regierungen und Nicht-Regierungs-Organisationen, die sich für die Bekämpfung der Armut einsetzen, und sie formuliert Richtlinien, nach denen internationale Institutionen einen Sockel der sozialen Sicherung in den einzelnen Ländern unterstützen können.

Die Hauptelemente dieses Sockels:

  • Der Sockel einer sozialen Sicherung soll für alle Menschen eingeführt werden, gleich ob sie im formellen oder informellen Sektor tätig sind (Textziffer 15 der Empfehlung).
  • Jedes Land führt den Sicherheitssockel entsprechend seinen Möglichkeiten ein. Er ist als ein Grundelement des jeweiligen nationalen Systems der sozialen Sicherung vorzusehen, im Zusammenwirken mit den anderen darin vorgesehenen Maßnahmen (TZ 4).
  • Der Zugang aller Menschen zu grundlegenden Lebensvoraussetzungen soll gesichert werden – kostenlos oder zu Preisen, welche die Armut nicht vergrößern (TZ 8a). Dazu gehören die Gesundheitsversorgung, der Zugang zu Trinkwasser und Hygienesicherung wie die Abwasser- und Müllentsorgung (Bachelet-Report, z. B. S. 9).
  • Alle Menschen, die es benötigen, sollen über ein gesichertes Mindesteinkommen verfügen können. Insbesondere Kinder und Alte sollen mit einem derartigen permanenten Einkommen auf Minimalniveau versorgt werden (TZ 5).
  • Der Sockel der sozialen Sicherung soll gesetzlich geregelt und für jeden Menschen einklagbar sein. Eine nationale Kommission soll das Niveau der Leistungen regelmäßig prüfen und anpassen. Dieser Kommission sollen neben Repräsentanten des Staates auch Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter angehören (TZ 8).
  • Jedes Land soll seinen Sockel der sozialen Sicherung grundsätzlich aus Eigenmitteln finanzieren. Falls erforderlich, kann es bei internationalen Institutionen eine Kofinanzierung beantragen (TZ 12).
  • Als mögliche Mittel für ein solches Programm werden ausdrücklich genannt: Kinder- und Familiengeld, Krankengeld und Gesundheitsfürsorge, Behinderten- und Hinterbliebenenunterstützung, Altersrenten, Arbeitslosengeld und Beschäftigungsgarantie, Unterstützung nach einem Arbeitsunfall. Andere Instrumente sind ebenfalls möglich (TZ 9).
  • Zur organisatorischen Abwicklung werden genannt: Allgemeine Zuwendungssysteme, Sozialversicherung, Sozialhilfe, negative Einkommensteuer, staatliche Beschäftigungsprogramme und Beschäftigungsförderung (TZ 9).
  • Die Notwendigkeit, diese Programme strikt zu kontrollieren, um z. B. Veruntreuung oder Korruption vorzubeugen, wird betont. Auch die regelmäßige Evaluierung der Durchführung und der Wirkung der Programme wird angemahnt (TZ 11, 19 ff).

Der Beschluss zum Sockel für soziale Sicherung hat eine lange Vorgeschichte: Die ILO hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1919 für soziale Rechte eingesetzt. Seit August 2010 arbeitet die Advisory Group, eine Gruppe unter Federführung der ILO, in Zusammenarbeit mit der WHO (Weltgesundheitsorganisation) daran, eine Strategie für die Vereinten Nationen zu entwickeln, die für alle Menschen eine soziale Grundsicherung gewährleistet (Social Protection Floor Advisory Group). Die Aufgabe ist: Niemand soll ohne ein bestimmtes Mindesteinkommen leben, und jeder Mensch soll Zugang zu wesentlichen öffentlichen Leistungen haben, z. B. Wasser und Abwasserentsorgung, Gesundheit und Bildung.

2011 legte die Advisory Group den bereits erwähnten umfangreichen
„Bachelet-Report“ (150 Seiten) vor, in dem die Begründung für und die möglichen Wege zu einem Sockel der sozialen Sicherung dargestellt sind. Zahlreiche Beispiele in Entwicklungsländern veranschaulichen das Vorhaben. Zur Vorbereitung der 101. Sitzung der International Labour Conference wurde daraus ein Kurzbericht erstellt (80 Seiten).

Bezug zum Grundeinkommen

In manchen Formulierungen der Empfehlung wird der typische englische Begriff für das Grundeinkommen benutzt: basic income. Dasselbe wie den Grundeinkommensbefürwortern stand den Delegierten, die die Empfehlung verabschiedet haben, jedoch nicht vor Augen. Das wird vor allem aus der Formulierung in Textziffer 4 deutlich: „Die Garantien sollten mindestens sicherstellen, dass in allen Lebensphasen allen, die dessen bedürfen, Zugang zu einer Mindest-Gesundheitsfürsorge und einem Grundeinkommen gewährt wird. Diese sichern zusammen den wirksamen Zugang zu den Gütern und Leistungen, die im nationalen Rahmen für unentbehrlich erklärt wurden.“ („The guarantees should ensure at a minimum that, over the life cycle, all in need have access to essential health care and to basic income security which together secure effective access to goods and services defined as necessary at the national level.“ Hervorhebungen vom Verfasser.)

Dies geht zurück auf die Deklaration von Philadelphia von 1944 (vgl. auch den englischen Originaltext), die „Verfassung“ der ILO, in der bereits die gleiche Formulierung verwendet wurde: “… social security measures to provide a basic income to all in need of such protection.“ Die Idee der Bedürftigkeit als Bedingung für das Mindesteinkommen ist also noch fest verankert, das Unwesen der Bedürftigkeitsprüfungen – mit der entwürdigenden Behandlung der Antragsteller, der verbleibenden verdeckten Armut und den starken Korruptionsanreizen – wird nicht überwunden (vgl. dazu die auf die Menschenrechte bezogene Kritik von Rolf Künnemann an Bedürftigkeitsprüfungen, dort Punkt 3).

Ähnlich argumentiert die Advisory Group im Bachelet-Report (siehe z. B. S. 37) und weist dort auch den Arbeitsfähigen den Weg: Ihnen soll das Geldverdienen mit staatlichen Beschäftigungsprogrammen und mit Arbeitsförderungsprogrammen ermöglicht werden. Die „Working Poor“ hätten hingegen ebenfalls Anspruch auf einen ergänzenden Transfer, der das Mindesteinkommen sicherstellt.

Der aktuelle Diskussionsstand ist somit geprägt von einer erwerbszentrierten Denkweise. So werden an vielen Stellen im Bachelet-Report bis hin zu den Empfehlungen die Vorschläge für ein Mindesteinkommen damit begründet, dass dadurch die Integration in die formale Wirtschaft, also die Teilnahme am staatlich kontrollierten Erwerbsleben erleichtert wird.

Die Vorstellung, entsprechende Bedingungen für die Auszahlung des Mindesteinkommens müssten die Bezieher zur Arbeitsaufnahme drängen, bleibt allerdings nicht unwidersprochen. Der Bericht nennt Studien, die die Durchsetzbarkeit von Konditionen für Sozialtransfers problematisieren und zeigen, dass die positiven Effekte nicht durch die Konditionalität, sondern durch die Einkommenssicherheit selbst erzielt worden sind (Bachelet-Report, S. 82). Im vorläufigen Protokoll der ILC-Sitzung findet sich auch eine Bemerkung der Sprecherin der Arbeitnehmervertreter, die darauf hingewiesen hat, dass ein Transfersystem fundamental fehlerhaft konzipiert wäre, wenn Bedürftige durch Konditionalität, Zielgruppenorientierung oder Bedürftigkeitsprüfungen um ihre soziale Absicherung gebracht würden (Provisional Record, TZ 16). Dieser Einwand hat sich aber nicht im Beschluss der Konferenz niedergeschlagen.

Insgesamt ist festzuhalten, dass die ILO-Empfehlung nicht über die deutschen Konzepte für eine Grundsicherung hinausgeht. Sie öffnet aber die Möglichkeit einer schrittweisen Weiterentwicklung zu einem echten Grundeinkommen. Solche Schritte können in der Forderung nach Mindesteinkommen für Kinder und Alte gesehen werden, aber auch in der Bereitschaft, eine umfassende soziale Infrastruktur bereitzustellen. Zukunftsweisend ist in jedem Fall, dass offiziell empfohlen wird, konkrete Schritte gegen die Armut zu unternehmen, und zwar weltweit. Die Chancen sind gestiegen, für Pilotprojekte mit einem bedingungslosen Grundeinkommen von UNO-Unterorganisationen eine Finanzierung zu erhalten. Ein Hoffnungsschimmer für das Dorf Otjivero in Namibia?

Ein Kommentar

Volker Stöckel schrieb am 27.10.2012, 07:35 Uhr

Ich halte nicht viel von der Floskel \"Bedürftigkeit\". Auch und gerade nicht in diesem Zusammenhang, der sich damit auf die übliche Illusion einlässt, es gebe sie und es gebe sie nicht, die Bedürftigen. Es gibt nur und ausschließlich bedürftige Menschen, denn jeder und jede auf der Welt bedarf kontinuierlich der Nahrung, Kleidung, Wohnung und medizinischen Versorgung, ob reich oder arm, klug oder weniger klug, groß oder klein, grün oder blau. Und so gut wie niemand ist heute in der Lager, sich dies alles selbst zu befrieden, jeder ist abhängig davon, dass ihm dieses von anderen bereitet wird (Fremdversorgung). Man sollte sich deshalb nicht auf diese Sprachwahl einlassen und statt dessen alle Menschen als das ansehen, was sie sind: bedürftig. Tatsächlich ist es genau das, in dem wir Menschen uns alle gleich sind. Meiner Erfahrung nach ist das auch für alle Menschen sofort einsehbar.

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