Grundeinkommen und freie Kooperation statt „Grundarbeitszeit“
Seit 2023 propagiert Timm Kunstreich eine sogenannte „Garantierte Grundarbeitszeit“. Im Kern handelt es sich dabei um einen vergüteten kommunalen Arbeitsdienst, der eine spezifische Form des ökonomischen Arbeitszwangs zur Existenzsicherung darstellt.
Wer ist Timm Kunstreich?
Timm Kunstreich studierte Sozialwissenschaften (Soziologie, Wirtschaft- und Sozialgeschichte, Erziehungswissenschaft) an der Universität Hamburg. Er wurde 1992 als Professor im Kirchendienst an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in Hamburg berufen und im Oktober 2009 emeritiert
In meiner Replik auf Kunstreichs Einlassungen in der Zeitschrift „Widersprüche“ kritisiere ich seinen verkürzten Grundeinkommensbegriff, seine unzulängliche Wiedergabe des Konzepts der Sozialen Infrastruktur und sein Konzept der „Garantierten Grundarbeitszeit“. Dabei belasse ich es nicht bei einer Kritik, sondern weise auch auf eine emanzipatorische und transformatorische Alternative hin. Der Titel der Replik lautet: „Grundeinkommen und freie Kooperation statt Arbeitszwang und Arbeitsdienst“. Sie ist in Heft 176 der Zeitschrift „Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich“ erschienen (45. Jahrgang, Nr. 2, S. 99-109). Es wird in den nächsten Wochen hier vorgestellt: https://www.widersprueche-zeitschrift.de/
Worum geht es bei der „Garantierten Grundarbeitszeit“?
Jeder Mensch soll nach Kunstreich (2023 in Widersprüche, Heft 170, 43. Jahrgang, Nr. 4) die Möglichkeit haben, für eine bestimmte freiwillige Tätigkeit einen „living wage“ aus einem „Kommunalen Ressourcen Fonds“ zu beantragen. Dabei könne jeder und jede frei entscheiden, „welche Art von der Arbeit er oder sie in den Mittelpunkt stellt“. (ebd. S. 40) Weiter heißt es: „Jede Bewohnerin und jeder Bewohner, die oder der sich für eine GGA [Grundarbeitszeit, R. B.] entscheidet, bekommt nun auf Antrag einen ‚living wage‘ zugesprochen. Mit dem er oder sie Lebensmittel kaufen können, die nur in Warenform zu haben sind. […] Beim Stellen des Antrags wird jede und jeder ausführlich darüber informiert, welche Projekte, Initiativen und künstlerische Angebote es gibt, an denen sie mitwirken können. Wenn jemand erst mal eine Auszeit für sich selber haben muss, ist das natürlich auch in Ordnung.“ (ebd. S. 42)
Die Kritik
Man muss also, wenn man keine klassische Erwerbs-/Lohnarbeit leisten möchte, einer Arbeit im Rahmen der „Grundarbeitszeit“ nachgehen, für die man dann auf Antrag einen „Lebenslohn“ erhält, also eine existenzsichernde Geldleistung für eine Arbeit bzw. Gegenleistung. Da Kunstreich ein Grundeinkommen ablehnt, ist man also entweder gezwungen zur Existenzsicherung traditionelle Lohn- bzw. Erwerbsarbeit oder den kommunalen Arbeitsdienst in der „Grundarbeitszeit“ zu leisten. Von Freiwilligkeit kann deshalb keine Rede sein. Im Kern handelt es sich bei der „Garantierten Grundarbeitszeit“ um einen vergüteten kommunalen Arbeitsdienst, einem spezifischen Konzept des ökonomischen Arbeitszwangs zur Existenzsicherung.
Widersprüche
Kunstreich verwickelt sich in seiner Konzeptbeschreibung der „Garantierten Grundarbeitszeit“ in viele Widersprüche. Zum Beispiel vertritt er die universalistische Position, dass „alle Tätigkeiten und Lebensäußerungen handelnder Menschen als gleichwertig und gleich sinnvoll erachtet werden“ (ebd. S. 40) sollen. Doch dann dürfte es eigentlich keine Beantragungsbehörde brauchen, wie sie Kunstreich im Auge hat. Es sei denn, man will das Handeln der Menschen kontrollieren oder ihnen gar vorschreiben, was sie wann, wo und wie sie etwas zu tun haben. Das wäre dann aber ein Paternalismus, der an dem universalistischen Gleichwertigkeitsanspruch zweifeln lässt. Denn wozu braucht es eine „Garantierte Grundarbeitszeit“, wenn alle Tätigkeiten und Lebensäußerungen der handelnden Menschen gleichwertig und gleich sinnvoll seien – und diese jederzeit und überall stattfinden (können)?
Die Alternative
Emanzipatorisch und transformatorisch wäre dagegen das Konzept Grundeinkommen, Arbeitszeitverkürzung und Recht auf Multiaktivität, verbunden mit vielfältigen Möglichkeiten der autonomen, selbstorganisierten individuellen und freien kooperativen Teilhabe an der Gesellschafts- und Weltgestaltung – ob lokal, regional oder global. Dieses Konzept von André Gorz würde jedem Menschen Zeitsouveränität geben und es ihm ermöglichen, seine Erwerbsarbeitszeit zu verkürzen oder Erwerbsarbeit aufzugeben und anderweitig vielfältig aktiv zu sein, aber auch der Muße zu frönen (vgl. Ronald Blaschke: Gute Care-Arbeit – Politische Notwendigkeiten und Möglichkeiten. Überlegungen von und mit André Gorz, in: Neumärker, Bernhard; Schulz, Jessica (Hg.): Care & Gender – Potential & Risks of Universal Basic Income. Zürich: 25-65).