Gewerkschaft mit Grundeinkommen? ver.di wächst nicht nur an Mitgliedern, sondern auch an Ideen

    Mathias Schweitzer 28.01.2024 Druckversion

    Für die Gewerkschaft ver.di war das bedingungslose Grundeinkommen bisher immer ein Buch mit sieben Siegeln. Doch das könnte sich jetzt ändern, denn der letzte ver.di-Bundeskongress im September 2023, auf dem die Strategie und Ausrichtung der Gesamtorganisation diskutiert und beschlossen wurden, erhielt diesbezüglich interessante Anträge von der Basis, also den Mitgliedern. Es ging in den Anträgen z. B. um Krieg und Frieden, um die Anerkennung einer eigenen Interessenvertretung in ver.di für Schwule und Lesben und um das bedingungslose Grundeinkommen. *

    Etwa anderthalb Jahre vor einem solchen ver.di-Bundeskongress werden basisdemokratisch die Mitglieder in den jeweiligen örtlichen ver.di-Gliederungen aufgefordert, ihre Ideen in Anträgen zu formulieren, um sie vor Ort zu diskutieren und zu beschließen. Ein Antrag zum bedingungslosen Grundeinkommen wurde 2022 in der Mitgliederversammlung eines Ortsvereins gestellt und dort mit großer Mehrheit angenommen. Anschließend ging es in die weiteren Konferenzen und auch dort fand der Antrag wieder die Zustimmung einer großen Mehrheit.

    Der Antrag lautete: „ver.di setzt sich dafür ein, dass es zur Bildung einer Arbeitsgruppe und einer breit angelegten Diskussion zum bedingungslosen Grundeinkommen kommt.“  (siehe der Antrag als PDF-Dokument hier und hier)

    Dass dieser Antrag große Mehrheiten fand, lag wohl nicht zuletzt daran, dass darin die aktuellen Probleme der Arbeitnehmer*innen, wie z.B. Transformation der Erwerbsarbeit und Rentenarmut, konkret angesprochen wurden, und mit einem bedingungslosen Grundeinkommen ein Lösungsansatz angeboten werden konnte. Deshalb empfahl auch die Antrags- und Beratungskommission dem Bundeskongress, den Antrag als Arbeitsmaterial an den ver.di-Bundesvorstand weiterzuleiten.

    Auf dem ver.di-Bundeskongress in Berlin im September 2023 wurde begonnen, die über 1.000 vorliegenden Anträge zu diskutieren und zu beschließen. Natürlich war es unmöglich, die Vielzahl der Anträge in nur einer Woche vernünftig abzuarbeiten. Aus diesem Grund schlug die Antrags- und Beratungskommission (ABK) während der Tagung den Kongressdelegierten vor, den Gewerkschaftsrat – das höchste ver.di-Gremium der Ehrenamtlichen zwischen den Kongressen – über die beim Kongress nicht behandelten Anträge beschließen zu lassen (siehe https://www.verdi.de/ueber-uns/bundeskongress-2023/antraege-kongressunterlagen, dort Sachgebiet B, Antrag B 128, hier auch als PDF_Dokument). Die Delegierten stimmten zu. Der Gewerkschaftsrat hat nun Ende 2023 den BGE-Antrag mit sehr großer Mehrheit angenommen.

    Nun ist der ver.di-Bundesvorstand am Zug.

    Zum Autor: Mathias Schweitzer ist Mitglied in ver.di. 

    * Ergänzung der Redaktion: Siehe die früheren Beiträge auf unserer Website

    https://www.grundeinkommen.de/09/01/2019/ver-di-basis-macht-wieder-fuers-grundeinkommen-mobil.html

    https://www.grundeinkommen.de/26/10/2015/wird-ver-di-eine-grundeinkommensgewerkschaft.html

    https://www.grundeinkommen.de/18/03/2015/basis-der-gewerkschaft-ver-di-in-sachsen-sachsen-anhalt-und-thueringen-fuer-grundeinkommensantrag.html

    https://www.grundeinkommen.de/26/09/2011/verdi-bundeskongress-2011-rueckschritt-und-erfolge-fuer-das-grundeinkommen.html

    6 Kommentare

    Ralf Krämer schrieb am 30.01.2024, 15:45 Uhr

    Meine Güte, das Gleiche ist doch vor vier Jahren auch passiert. Angenommen als Arbeitsmaterial an den BuVo, dass der also eine AG dazu prüfen soll, ändert an der ablehnenden Position in der Sache nichts. Der Grund dafür ist nach meiner Einschätzung wie üblich v.a., dass die Antragsberatungskommission und der Kongress kontroverse Diskussionen und Abstimmungen bzw. Ablehnungen von Anträgen vermeiden wollten und nichts anderes. In der Sache wird die BGE-Forderung angesichts der sich verschärfenden Finanzprobleme einerseits, Fachkräftemangels andererseits zunehmend noch absurder als sie immer schon war.

    Barbara Mecking schrieb am 01.02.2024, 10:34 Uhr

    Lieber Ralf,

    als ver.di-Mitglied bin ich schon über Deine Bemerkungen entsetzt.

    Der ver.di-Kongress ist also nur eine nette Veranstaltung, in der die ver.di-Mitglieder bespaßt werden und nicht den zukünftigen Kurs unserer Gewerkschaft bestimmen? Was gut und richtig ist, wird dann von den Hauptamtlichen entschieden?

    Verzeih meinen scharfen Ton, aber auch Du hast als ver.di-Mitglied nur eine Stimme! Alles andere solltest Du den demokratischen Gremien in ver.di überlassen.

    Renate Gerstel schrieb am 01.02.2024, 11:44 Uhr

    Habe ich das jetzt richtig verstanden, dass Antragsberatungskommission und Bundeskongress bei einer demokratisch aufgestellten Gewerkschaft wie ver.di üblicherweise kontroverse Diskussionen und Abstimmungen zu Anträgen vermeiden wollen? Das würde ja bedeuten, dass die Akteur*innen keine ergebnisoffenen Diskussionen wünschen und ihre eigenen demokratischen Regeln missachten. Das kann und will ich mir nicht vorstellen. Im Gegenteil: Ich baue auf meine Gewerkschaft. Sie wird sorgfältig und gewissenhaft vorgehen und alle Argumente und Kriterien vorbildlich abwägen. Keinesfalls wird sie einen Diskussionsprozess mit taktischen Spielchen unterbinden oder gar per Holzhammermethode abwürgen. Wer meint, dass die jetzt betrauten ver.di-Gremien ihnen zugewiesene Anträge nicht ernsthaft prüfen, stellt die gesamte Organisation in ihren Grundfesten in Frage.

    Helga Fischer schrieb am 01.02.2024, 22:58 Uhr

    Finanzprobleme? Gefühlt werden Milliarden in Umweltzerstörung und Tötung von Menschen (Ukraine) eingesetzt; jeder Global Player im Aktienmarkt, der ein paar Arbeitsplätze verspricht, erhält Land, Ressourcen und - man rate - ein paar Milliarden oben drauf. Das Menschenrecht Wohnen wird weiteren Konzernen zum Fraß vorgeworfen - natürlich werden auch hier weitere Milliarden in die Rachen von Mietkonzernen geworfen. Geld scheint es also genügend zu geben.

    Im Gegenzug werden Arbeitnehmerinteressen immer weiter eingedampft. Der Staat hat nicht das mindeste Interesse, mal die Arbeitsbedingungen in den schön geschaffenen Niedriglohnsektoren zu überprüfen und die Schwarzen Schafe der Branche aus dem Verkehr zu ziehen.

    Mit Einsetzen der Rieseninflation vor zwei Jahren, die das Leben vieler Menschen mit niedrigen Einkommen das Leben erheblich erschwert hat, wurde der damalige Mindestlohn von 12 Euro pulverisiert. Auch hier gibt es keine Antworten geschweige denn eine notwendige Anpassung des Mindestlohns. Die Folge: Hetze gegen arme Leute und die immer wiederholende Mär vom (breiten) Fachkräftemangel. Wer ins Angebot der Arbeitsagentur reinguckt, sieht die Reste an Jobs. Damit erhält man keine Sicherheit im Leben. Wer aufmerksam in die Welt hinausguckt, der weiß, welche Branchen und Arbeitgeber nach Leuten rufen. Die wollen einfach billig und möglichst viele unbezahlte Überstunden rund um die Uhr oder auf Abruf. Das sind Arbeitswelten, die für Gewerkschaften nicht mehr greifbar sind, weil dort einfach nicht vertreten, während die dort Beschäftigten jeden halben Euro fünfmal rumdrehen, um ihn dann doch nicht auszugeben. Diese Beschäftigten werden keine Gewerkschaftsmitglieder (mehr).

    Menschen brauchen nichts mehr wie Stabilität und festen Boden unter den Füssen - ohne einen Riesenaufwand an Formularen, Rechtfertigungen und Kontrolle. Ein BGE gibt ihnen die Würde zurück und die Freiheit, auf dem sogenannten \"Arbeitsmarkt\" einigermaßen auf Augenhöhe zu verhandeln.

    Machen wir uns nichts vor: Es wird automatisiert und wegrationalisiert auf Teufel komm raus. Der dadurch erzeugte Mehrwert fließt unbesteuert in die Taschen von Unternehmenslenkern, Konzernen und Aktionären. Doch: Was ist mit den Menschen? Die Vergangenheit zeigt doch: Aus gut dotierten Industriearbeitsplätzen werden kümmerliche, unsichere Teilzeitjobs in der Dienstleistungsbranche. Diese Arbeitsplätze werden wohl nachgefragt, das geht jedoch nur durch eine Flankierung durch ein weiteres Einkommen - das Bedingungslose Grundeinkommen.

    Gewerkschaft sollte sich endlich mal etwas intensiver und genauer mit dieser Idee befassen. Nur von vorne herein ablehnen - das ist nicht in Ordnung. Wer weiß, vielleicht kommt ja eine andere Lösung heraus und überzeugte BGE-Befürworterinnen ändern ihre Überzeugung.

    Nur: Armenherabwürdigung per Gesetz sollte endlich der Vergangenheit angehören. Menschen wollen leben und keine Verfügungsmasse des Kapitals sein. Menschen wollen sich einbringen und nicht verwertet werden. Andernfalls legen wir dem wachsenden Faschismus in der Welt den Roten Teppich aus.

    Helga Fischer schrieb am 01.02.2024, 23:08 Uhr

    Und noch als kleine Ergänzung: https://www.mein-grundeinkommen.de/magazin/grundeinkommen-finanzierbar-fratzscher-diw?name=nl-fueralle-240201&action=text-3. Auch gestandene Ökonomen halten das BGE nicht für völlige Utopie und rechnen nach. Ja, Selbstermächtigung ist bezahlbar - und ja, es wird Folgen haben.

    Margot Jäschke schrieb am 02.02.2024, 16:16 Uhr

    Nur zur Klarstellung - von einem Mitglied der Antragskommission bei diesem Bundeskongress von ver.di und stellvertretenden Mitglied im Gewerkschaftsrat (und als solches bei der Gewerkschaftsratssitzung dabei, auf der die vom Bundeskongress dahin überwiesenen Anträge behandelt wurden):

    Aufgabe der Antragskommission (AK) ist es, die Anträge vorzubereiten und dem Bundeskongress (BuKo) eine Empfehlung vorzulegen. Dabei geht es nicht darum, den BuKo möglichst ruhig zu halten, sondern darum, die verschiedenen Anliegen darauf zu überprüfen ob sie

    - so schon ver.di-Beschlusslage sind

    - mit den ver.di-Grundsätzen und der Satzung vereinbar sind.

    Ausserdem wird versucht, ähnliche Anträge sinnvoll zuzuordnen, überhaupt die Anträge in eine sinnvolle Reihenfolge und in sachlich passende Themengebiete einzuordnen.

    Die AK begründet auf dem BuKo ihre Entscheidungen (insbesondere bei Ablehnungs- oder Änderungsempfehlungen). Alles das als Dienstleistung für den BuKo, damit der sich auf das Inhaltliche konzentrieren kann und sich nicht endlos über Formalien streiten muss.

    Die Delegierten sind jederzeit frei in ihrer Entscheidung, können natürlich auch gegen die Empfehlung der AK abstimmen, und gelegentlich hat die AK auch entsprechend der erkennbaren Stimmungslage im Kongress ihre Empfehlung geändert.

    Eine \"Annahme und Weiterleitung an den Bundesvorstand\" bedeutet, dass der entsprechende Antrag angenommen (!) ist, und dass der Bundesvorstand mit der Ausführung (!) beauftragt wird. Das ist dann notwendig, wenn es um Gelder (z.B. für eine Kampagne) oder Personalressourcen geht. Im Fall der zu bildenden Arbeitsgruppe zum BGE stand ja nicht im Antrag, wer da genau drin sein soll. Also wird der Bundesvorstand dazu jetzt wohl einen Vorschlag erarbeiten, den der Gewerkschaftsrat dann beschließen muss.

    Und Folgendes noch zum Allgemeinen:

    - Für diesen BuKo wurde deutlich mehr Zeit für die Antragsberatung eingeplant als beim vorherigen. Dass trotzdem nicht alle Anträge direkt auf dem BuKo diskutiert und abgestimmt werden konnten, lag zumindest teilweise auch daran, dass manche Delegierte jedes zur Verfügung stehende Mittel genutzt haben um ihre Meinung ausführlichst darzutun (z.B. durch persönliche Erklärungen), auch und gerade wenn die große Mehrheit der Delegierten schon anders abgestimmt hatte.

    - Der Gewerkschaftsrat ist ein Gremium von ehrenamtlichen, sehr in ver.di engagierten Mitgliedern. Dieses Gremium trifft zwischen den Kongressen die wichtigen Entscheidungen der Gewerkschaft. Der hauptamtliche Bundesvorstand ist quasi das ausführende Organ und an Gewerkschaftsrats- und Bundeskongress-Beschlüsse gebunden. Beide Gremien werden vom Bundeskongress gewählt.

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