Überwindung der Hartz-IV-Falle durch bedingungsloses Grundeinkommen – eine Veranstaltung in Bremen
Inge Hannemann war auf Einladung der Bremer attac-AG „Genug für alle“ und der Mitveranstalter Initiativkreis Bedingungsloses Grundeinkommen in der Bremischen Evangelischen Kirche (Initiativkreis BGE.BEK), St.Michaelis – St.Stephani-Gemeinde und Bremer Rosa-Luxemburg-Initiative am 21.10.2013 in Bremen und hielt einen Vortrag mit dem Titel: „Kronzeugin gegen eine demütigende Sanktionspraxis. Das BGE als Ausweg aus Hartz IV“. Ihr bewegender Vortrag ist zu sehen unter http://www.youtube.com/watch?v=iWo252g7FV0.
Spiegel online weist auf eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sowie der Universität Halle-Wittenberg hin, die nicht nur auf den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Erkrankung hinweist, sondern auch auf eine brisante Zunahme der psychisch Erkrankten unter den Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind. Allerdings bedenkt Spiegel online über seine traurige Bilanz hinaus keine Alternativen.
Für die Veranstalter und die allermeisten Teilnehmer dieses Abends ist deutlich geworden, wie dringlich die Förderung der Grundeinkommensidee gerade für die soziale Gerechtigkeit bei Erwerbslosigkeit ist. Im Interesse der betroffenen Menschen wollen wir weiter Partei ergreifen und uns für die sinnvolle Alternative BGE einsetzen.
Der Inhalt der Abendveranstaltung mit Inge Hannemann wurde in vier Berichten und Kommentaren zusammengefasst:
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Ungefähr 100 Interessierte drängten sich im Gemeindehaus St. Michaelis, um Inge Hannemanns Vortrag zu hören – und um ihre eigenen schlimmen Erfahrungen beizutragen. Betroffene also, deren Gesichtern, deren Beiträgen und Fragen anzumerken war, was es heißen kann, auf das Jobcenter angewiesen zu sein. Anspannung, eine brisante Mischung aus Enttäuschung, Ärger, Verzweiflung bis hin zur Resignation machte sich Luft, als deutlich wurde, dass Inge Hannemann solche Erfahrungen nicht etwa verharmlost, sondern unumwunden deren systematischen Charakter beschreibt. Mir als Zuhörer drängte sich auf, dass der Name „Jobcenter“ ein Euphemismus ist, symbolisiert das Wort doch auf subtile Weise die Hoffnung derjenigen, die es aufsuchen: dass Leben, gesellschaftliche Teilhabe, Wertschätzung über einen Platz im Erwerbsarbeitsleben ermöglicht würden.
Doch die Erwerbsarbeitswelt hat gar nicht genug Stellen für alle. Für viele muss es Enttäuschungen geben – leere Versprechungen. Aber damit nicht genug: Offensichtlich kann man bereits beim Erstkontakt in eine Falle tappen, ohne offen und korrekt beraten zu werden. Weniger im Interesse der „Kunden“ agierten Jobcenter-Mitarbeiter, als vielmehr mit Blick auf vorgegebene Einspar- und Sanktionsquoten. Eine Praxis, auf die man wohl eher bei betrügerischen Haustürgeschäften von Leuten aus Drückerkolonnen gefasst wäre und bei irgendwelchen windigen Telekommunikations- oder Energieanbietern. „Otto Normalverbraucher“ kennt doch die aufreibende Suche nach einem Menschen, der einen an der endlich erreichten Hotline nicht einfach abwimmelt oder einem das Blaue vom Himmel verspricht, sondern sich der Probleme wirklich annimmt. Wie viel schwerer muss das durchzustehen sein, wenn es jahrelang so geht – und um tatsächlich existenzielle Belange! Ich weiß von einigen Betroffenen, die sich wegen erlittener massiver Verletzungen und Kränkungen nur mit äußerster Anstrengung zum Jobcenter wagen. Erst recht trauen sie sich nicht mehr zu einer solchen Veranstaltung. Sie müssen sich schützen, um ihre persönliche Stabilität nicht zu gefährden. Inge Hannemann betont auch vehement die Not vieler Mitarbeiter der Jobcenter, die nicht angemessen ausgebildet und mit zu vielen Anweisungen und Aufgaben für viel zu viele „Kunden“ zuständig seien. Skandalös finde ich, dass die beschriebenen und von den Teilnehmern implizit und explizit bestätigten Zustände im offiziellen Auftrag von uns allen, also vom Staat und damit vom Steuerzahler verursacht werden, und dazu noch flächendeckend.
Ebenso interessant wie folgerichtig dann auch die einhellige Zustimmung der Teilnehmer zu den Darlegungen über das bedingungslose Grundeinkommen. Es würde die erniedrigenden Zustände naturgemäß sofort beenden. Würdevolles, selbstbestimmtes Leben und gesellschaftliche Teilhabe, die ursprüngliche Hoffnung, würden damit erfüllt. Und die „Arbeitsvermittlung“ könnte sich wieder auf ihren eigentlichen positiven Sinn konzentrieren, nämlich Arbeitssuchende und echte Arbeitsangebote zusammenzubringen, zu beraten, Menschen auf wirklichen Bedarf hin zu qualifizieren.
Michael Behrmann, Pastor
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2
Diesen Abend im überfüllten Gemeindesaal des Gemeindehauses St. Michaelis werde ich nicht so schnell vergessen. 100 Männer und Frauen, ältere und jüngere waren gekommen, zum großen Teil vom Hartz-IV-System und seiner Menschen abwertenden Sanktionspraxis Betroffene. Sehr deutlich wurde: Hier wird die Würde des Menschen (GG § 1) verletzt, auch durch verfassungswidrigen Zwang zu einer bestimmten Arbeit (vgl. GG § 12 Absatz 2). Ein System, unter dem „beide Seiten des Schreibtisches“ (Besucher und Mitarbeiter des Job-Centers) letztlich leiden und in dem sie psychisch und körperlich krank werden. Es war ein Abend der sichtbaren und unsichtbaren Tränen – aus Ohnmacht und Wut. Es kann daraus nur gefolgert werden: Dieses diskriminierende Hartz-IV-System muss abgeschafft werden. Nur auf derGrundlage von Wertschätzung und Vertrauen lässt sich gemeinsam mit den Menschen ihre Lebensperspektive entwickeln. Das bedingungslose Grundeinkommen ist dafür ein wichtiger Orientierungspunkt, denn „jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit“ (Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte).
Auf dieses legitime Recht wird in der Bibel immer wieder hingewiesen. Gott selbst tritt für dieses Recht ein und fordert dazu auf, Recht zu üben gerade gegenüber den Benachteiligten. So liegt es nahe und ist wünschenswert, dass sich unsere Kirchengemeinde St.Michaelis – St.Stephani, direkter Nachbar des Bremer Job-Centers, hier deutlich positioniert, d. h. Räumlichkeiten zur Verfügung stellt und Solidarität übt mit den Betroffenen. In diesem Sinne darf dieser Abend mit Inge Hannemann an diesem Ort nicht der letzte Abend gewesen sein.
Friedrich Scherrer, Pastor
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Herzlichen Dank, Frau Hannemann dafür, dass Sie die Vorgehensweise in den Jobcentern offen gelegt haben! Mir war nicht bewusst, dass Sanktionen auch 100% betragen können. In diesem Fall können die Betroffenen sogenannte Lebensmittelgutscheine beantragen, welche jedoch oftmals nur in bestimmten Geschäften einlösbar sind. Busfahrten, Medikamente oder gar Bewerbungsunterlagen können sie damit nicht bezahlen. Das sind Aussichten, die psychischen und psychosomatischen Krankheiten Tür und Tor öffnen. Nicht nur bei den Erwerbslosen, auch bei vielen Mitarbeitern der Jobcenter. Diese wissen sehr wohl, wie schnell sie sich auf der anderen Seite des Schreibtisches wiederfinden, falls sie nicht mehr bereit sind, den Druck, dem sie ausgesetzt sind, an die Erwerbslosen weiterzugeben.
Wer will den Hartz IV-Beziehern verübeln, dass sie jeglichen Optimismus, jegliche Zuversicht und den Glauben an die eigene Stärke verloren haben?
Frau Hannemann bringt mehr als einen Stein ins Rollen. Sie legt uns mit ihrer Ehrlichkeit und Offenheit das Rüstzeug für Veränderungen direkt in die Hand. Leider habe ich im Publikum mehrfach die Vermutung gehört, dass sich ja doch nur die betroffenen Hartz-IV-Bezieher für Verbesserungen und für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen würden. Das macht mich betroffen. Jetzt ist es an uns, aus der Paralyse wieder in die Lebendigkeit zu kommen. Wenn wir unsere raumfüllende Wut in zielgerichtete Aktivität verwandeln können, sind wir dem BGE schon einen entscheidenden Schritt näher.
Doris Weidenhöfer
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Die authentische Offenheit und die emphatische Nähe aller Anwesenden war im Gemeindesaal St. Michaelis das zentrale Zeichen dafür, dass es stimmt: „Die schlimmste Armut ist Einsamkeit und das Gefühl, unbeachtet und unerwünscht zu sein.“ So hatte Mutter Teresa sich gegen Ende ihres Arbeitslebens geäußert, eines Lebens, das von Solidarität mit ihren Mitmenschen geprägt war.
Das während der Diskussion geäußerte persönliche Leid vieler Betroffener wurde immer wieder mit fehlender Solidarität der Gesellschaft begründet. Mit Sanktionen zu drohen und sie rechtswirksam anzuwenden, entfernt Menschen immer weiter voneinander. Das Vertrauen in den Gesetzgeber, in Behörden und Agenturen ist erschüttert. Inge Hannemann bestärkte mit ihren unmissverständlichen Informationen und Hinweisen alle Betroffenen darin, nicht aufzugeben, nicht die Hoffnung zu verlieren, nicht auf Lebensfreude zu verzichten, sondern von ihren Mitmenschen Hilfe und Unterstützung zu fordern und auch anzunehmen, von Menschen, die nicht von vornherein die Sanktionskeule auf dem Tisch liegen haben.
Hoffentlich gibt es außer Inge Hannemann noch andere verantwortungsvolle Wegbegleiter unter den Nichtbetroffenen und in unserer Gerichtsbarkeit, die handeln, indem sie die Sanktionsfallen und ihre entwürdigenden gesetzlichen Grundlagen bedingungslos streichen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist hierfür der geeignete Weg, so auch die Einschätzung von Inge Hannemann. Ein solcher solidarischer Weg würde es Menschen ersparen, sich unbeachtet und unerwünscht zu fühlen.
Reinhard Zimmermann