Geschichte

Ein historischer Abriss über Vorschläge und Ideen zum Grundeinkommen

Autor: Ronald Blaschke

Auf dieser Seite wird zusammengefasst, wie sich die Idee von einem Grundeinkommen historisch entwickelt hat. Die Seite enthält Ideen zur Armutsbekämpfung und Vorschläge für ein Grundeinkommen, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert in Europa entstanden sind. Eine Fortsetzung ist geplant. Der Beitrag steht auch als PDF-Dokument (3 MB) zur Verfügung.

Inhalt
  1. Einführung und Erläuterung von Begriffen
  1. Vorschläge und Ideen zur Armutsbekämpfung bis Ende des 18. Jahrhunderts
    1. Vorbemerkung
    2. Thomas More: Begründer einer Einkommensgarantie?
    3. Meinte Juan Luis Vives ein garantiertes Mindesteinkommen?
    4. Wollte Hugo de Groot die Erträge der Erde unter allen Bürgern gleich verteilen?
    5. Das Speenhamland-System – eine Art garantiertes Grundeinkommen?
    6. Thomas Paine – einmalige Grundausstattung für alle Jungen, Grundrente für alle Alten
  2. Thomas Spence 1796: Begründer der Idee des Grundeinkommens
  3. Vorschläge und Ideen zum (partiellen) Grundeinkommen im 19. Jahrhundert
    1. Victor Considerant: „Keine politische und soziale Freiheit für die Massen ohne Minimum.“
    2. Belgische Egalitaristen: Vorschlag einer bedingungslosen Geldleistung an alle
    3. Joseph Charlier: Regelmäßige Zahlung einer Territorialdividende an alle Bürgerinnen und Bürger

 

Einführung und Erläuterung von Begriffen

Die Begriffe Grundeinkommen und Grund-/Mindestsicherung werden erläutert. Es werden einführende Bemerkungen zum folgenden, weitgehend mit Originalzitaten und deren Übersetzungen belegten geschichtlichen Abriss der Vorschläge und Ideen zum Grundeinkommen gemacht (siehe PDF-Dokument).

 

1. Vorschläge und Ideen zur Armutsbekämpfung bis Ende des 18. Jahrhunderts

 

1.1 Vorbemerkung

Die Zeit bis zum 18. Jahrhundert war in Europa in sozialer Hinsicht geprägt vom Übergang einer auf Caritas (Nächstenliebe, Wohltätigkeit) beruhenden privaten oder christlich-institutionalisierten Fürsorge gegenüber armen Menschen zur vom politischen Gemeinwesen, also von öffentlicher Hand organisierten Versorgung Armer bzw. Bedürftiger. Armut galt in der christengemeinschaftlich organisierten oder privaten Armenunterstützung als Anlass für Barmherzigkeit. Mit dem Almosen für Arme verband man die Möglichkeit der guten, gottgefälligen Tat. Arme und Reiche standen in einem funktionalen Verhältnis zueinander: Die Reichen waren für die Erlösung der Armen von Armut geschaffen, die Armen für die Erlösung der Reichen fürs Himmelsreich. Dieses traditionelle funktionale Verhältnis wird im Zuge steigender (früh-)bürgerlicher Wertschätzung der Arbeit durch eine zunehmend rechtlich und öffentlich-institutionell geregelte Armenfürsorge ersetzt, die u. a. mit dem Verweis der Armen auf die Selbsterwirtschaftung des Lebensunterhalts und mit öffentlichen Zwangsarbeitsmaßnahmen verbunden war: Armut galt es nun durch eigene Arbeit zu überwinden. Wer nicht arbeitete, obwohl er konnte, sollte auch nicht essen. Der würdige Arme hatte ein (keinesfalls im heutigen Sinne gegebenes) Anrecht auf eine öffentliche Armenunterstützung bzw. Unterstützung der Erwirtschaftung des Lebensunterhalts. Der unwürdige Arme, der sich nicht bemühte und sich nicht den herrschenden Verhaltensnormen unterwarf, wurde benachteiligt, sanktioniert, eingesperrt oder verhungerte. Die neue, säkulare Armenunterstützung hatte die Funktion, das protestantische und bürgerliche Arbeitsethos durchzusetzen. Später diente sie zur Durchsetzung der Kopplung der Existenz- und Teilhabesicherung der Lohnabhängigen an die Lohnarbeit. Das politische Gemeinwesen wurde rechtlich zuständig für die Armenfürsorge und für die Durchsetzung der mit ihr verbundenen protestantischen, bürgerlichen und kapitalistischen Normen und (Herrschafts-)Verhältnisse. Die eingangs kommunal, später auch nationalstaatlich organisierte Armenfürsorge war verbunden mit einer Ökonomisierung, Verrechtlichung und Pädagogisierung der Armut, einer öffentlichen Kontrolle der Lebensführung der Armen und der Einführung vielfältiger Formen der Zwangsarbeit für Arme (vgl. Vobruba 1985).

Am Ausgangspunkt der Idee der öffentlich-rechtlich organisierten Armutsbekämpfung im frühen 16. Jahrhundert stand nicht der “Gedanke eines garantierten Mindesteinkommens”, geschweige denn eine “Einkommensgarantie”, wie es zum Beispiel Yannick Vanderborght und Philippe Van Parijs schreiben (vgl. Vanderborght/Van Parijs 2005: 15). Die ersten Vordenker der Idee einer säkularen (und kommunalen) Armutsbekämpfung waren keine Streiter für ein Grundeinkommen, sondern entweder Begründer der Idee einer geringen, diskriminierenden, stigmatisierenden und repressiven Grund- und Mindestversorgung der Armen, die auch nur in seltensten Fällen in Geldform geleistet werden sollte, und/oder Begründer von Ideen, die auf die wirtschaftliche Aktivierung der Armen zielten, insbesondere durch Ermöglichung von Erwerbsarbeit oder Subsistenzgelegenheiten, den Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften. Die heute bestehenden repressiven, diskriminierenden und stigmatisierenden Grund- ­bzw. Mindestsicherungssysteme haben ideengeschichtlich und praktisch ihren Ursprung in diesen Ansätzen der Armutsbekämpfung. Viele Elemente dieser Ideen und Praxen finden sich in modifizierter Form in den heutigen repressiven Ansätzen der Armutsbekämpfung im Allgemeinen und der Grund- und Mindestsicherungssysteme im Besonderen wieder. Die Beschreibungen der Vorläufer bzw. Begründer der Idee des Grundeinkommens verkennen oft, dass in der Geschichte zwei verschiedene Linien der Vorschläge und Ideen zu beobachten sind: erstens die Linie der Armenfürsorge und -versorgung, die mit ihren diskriminierenden und stigmatisierenden Elementen bis zu den heutigen repressiven Grund- bzw. Mindestsicherungssystemen führt, zweitens die Linie, die von Vorschlägen für universelle monetäre Leistungen und universelle nicht monetäre Angeboten bis zu heutigen Vorschlägen für ein Grundeinkommen und freien Zugängen zur öffentlichen Infrastruktur und Dienstleistung führt. Die zweite Linie beinhaltet also Vorschläge und Ideen für Leistungen und Angebote für alle Menschen bzw. für alle Gemeinwesenmitglieder. Die erste Linie beinhaltet Vorschläge und Ideen, die arme Menschen bzw. Gemeinwesenmitglieder betreffen. Beide Linien werden oft unzulässig vermischt.

Literatur

Vanderborght, Yannick/Van Parijs, Philippe (2005), Ein Grundeinkommen für alle? Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags, Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag.

Vobruba, Georg (1985): „Arbeiten und Essen. Die Logik im Wandel des Verhältnisses von gesellschaftlicher Arbeit und existentieller Sicherung im Kapitalismus“, in: Stephan Leibfried/Florian Tennstedt (Hg.), Politik der Armut und Die Spaltung des Sozialstaates, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, S. 41-63.

 

1.2 Thomas More – Begründer einer Einkommensgarantie?

1024px-Hans_Holbein,_the_Younger_-_Sir_Thomas_More_-_Google_Art_ProjectThomas More als Lordkanzler, Hans Holbein der Jüngere, 1527 (Wikipedia)

Dem Engländer Thomas More (Thomas Morus, 1478 – 1535) wird nachgesagt, er habe in Utopia (1516) den „Vorschlag einer Einkommensgarantie“ gemacht. Morus plädiert dafür, dass der Unterhalt der Armen grundsätzlich durch deren eigene Arbeit gesichert werden sollte, nicht durch eine garantierte Geldleistung des Gemeinwesens. Sie sollten dafür Land zur Verfügung gestellt bekommen. Diebe sollten zu Zwangsarbeit verurteilt werden, öffentlichen Arbeitsdienst verrichten, und dabei notfalls zur Arbeit geprügelt werden. Bei schwerem Diebstahl solle der Dieb ins Arbeitshaus gesteckt werden. In dem von ihm entworfenen Staat Utopia sind zwar alle notwendigen Güter geldlos erhältlich, es herrscht aber eine allgemeine Arbeitspflicht für alle.

 

1.3 Meinte Juan Luis Vives ein garantiertes Mindesteinkommen?

LuisVivesJuan Luis Vives (Wikipedia)

Oft wird dem Spanier Juan Luis Vives (Ioannes Lodovicus Vives, 1492 – 1540) nachgesagt, die erste detaillierte Argumentation zugunsten eines garantierten Mindestein­kom­mens entwickelt zu haben. Vives propagierte 1526 aber eine an Zwangsarbeit, Gegenleistung und Bedürftigkeitsprüfung geknüpfte Existenzsicherung durch eine karge naturale, also nicht monetäre Mindestversorgung für Arme. Ansonsten sollte die Existenz durch eigene Erwerbsarbeit gesichert werden. Nur wenn das Erwerbsein­kommen zu niedrig war, sollte der Lohn aufgestockt werden. Vives propagierte darüber hinaus eine umfassende gesellschaftliche Kontrolle über alle Menschen, damit niemand müßig gehe.

 

1.4 Wollte Hugo de Groot die Erträge der Erde unter allen Bürgern gleich verteilen?

Michiel_Jansz_van_Mierevelt_-_Hugo_Grotius (1)Hugo de Groot (Wikipedia)

Der Niederländer Hugo de Groot (Hugo Grotius, 1583 – 1645) wollte die Erträge der Natur nicht gleichmäßig unter allen Bürgern verteilen, er begründete auch keine Grundversorgung oder ein garantiertes Einkommen für alle. Er vertrat 1625 ein vom Naturrecht abgeleitetes, an viele Bedingungen geknüpftes Recht auf das für das Leben Nötige in naturaler Form, dies ausschließlich für Bedürftige, die sich in äußerster existenzieller Not befanden.

 

 

1.5 Das Speenhamland-System – eine Art garantiertes Grundeinkommen?

brot_sourdough_loafSourdough loaf 2“ von muffinn, Lizenz: CC BY 2.0

Das zwischen 1795 und 1834 in mehreren Grafschaften Englands eingeführte Speenhamland-System wird manchmal als eine Art garantiertes Grundeinkommen bezeichnet bzw. als ein Recht auf einen Lebensunterhalt, das Schluss machen würde mit der Arbeits- oder Gegenleistungsverpflichtung. Es handelt sich aber um eine Unterstützung armer Familien in Form eines Zuschuss für zu niedrige Arbeitseinkommen.

 

1.6 Thomas Paine – einmalige Grundausstattung für alle Jungen, Grundrente für alle Alten

Thomas_Paine_by_John_Wesley_Jarvis,_c1805 (1)Thomas Paine (Wikipedia)

Der Engländer Thomas Paine (1737 – 1809) wird oft als Vordenker des Grundeinkommens bezeichnet. Er entwickelte aber 1796 die Idee einer einmaligen Grundausstattung für alle Jungen und einer Grundrente für alle Alten und begründete sie naturrechtlich.

 

 

 

 

 

 

 

2.  Thomas Spence 1796: Der Begründer des Grundeinkommens

ThomasSpenceThomas Spence (Wikipedia)

Thomas Spence (1750 – 1814) schlug in seinem Essay „The rights of infants“ 1796 als erster die lebenslange und regelmäßige Zahlung eines Grundeinkommens an alle Mitglieder des Gemeinwe­sens vor. Das naturrechtlich begründete Grundeinkommen sollte Armut abschaffen. Spence verbindet die Einführung des Grundein­kom­mens mit der Überführung des Privateigentums an Naturgütern in kommunales Eigentum, die direkte Kontrolle über das Eigentum des Gemeinwesens durch alle Gemeinwesen­mit­glieder, mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts und mit der Sicherung öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistung.

 

3.  Vorschläge und Ideen zum (partiellen) Grundeinkommen im 19. Jahrhundert

 

3.1 Victor Considerant: „Keine politische und soziale Freiheit für die Massen ohne Minimum.“

Victor_ConsiderantVictor Considerant (Wikipedia)

Der Franzose Victor Considerant (1808 – 1893), ein Schüler und Vertreter der Ideen von Charles Fourier, begründet 1841 ein bedingungsloses Minimum für jeden Menschen und die Gestaltung attraktiver Arbeitsbedingungen in Genossenschaften, zwei für ihn zusammengehörige Reformen. Unklar ist, ob es ein Einkommen oder eine Grundversorgung in Güter- bzw. Naturalform sein soll. Dieses Minimum soll aber eine ausreichende Höhe haben, um die soziale sowie politische Freiheit abzusichern.

 

 

3.2 Belgische Egalitaristen: Vorschlag einer bedingungslosen Geldleistung an alle

In einem Verfassungsentwurf von Egalitaristen und Sozialisten um die Gebrüder Kats, gefunden 1848 bei einer polizeilichen Hausdurchsuchung, wird die Erde als gemeinsames Eigentum aller Menschen bezeichnet. Damit wurde naturrechtlich ein (partielles) Grundeinkommen für alle im Gemeinwesen Lebenden begründet. Darüber hinaus wird im Verfassungsentwurf u. a. beschrieben, dass alle wichtigen Unternehmen verstaatlicht, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschafft, das Recht auf Bildung umgesetzt und grundlegende demokratische Rechte allen Mitgliedern des Gemeinwesens garantiert werden solle/n.

 

3.3 Joseph Charlier: Regelmäßige Zahlung einer Territorialdividende an alle Bürgerinnen und Bürger

Der Belgier Joseph Charlier (1816 – 1896) schlug 1848 und in späteren Schriften ein (partielles) Grundeinkommen für alle Staatsbürgerinnen und -bürger des jeweiligen Landes vor, begründet mit dem naturrechtlichen Argument, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft die natürlichen Ressourcen des Nationalstaates gehören. Darüber hinaus sollen u. a. längerfristig alle natürlichen Ressourcen verstaatlicht werden.